Theaterkritik: Sarah Kanes «Gier» am PfauenRomantische Liebe ist bloss ein ungesunder Traum
Christopher Rüping hat Sarah Kanes «Gier» auf die Pfauenbühne gebracht – und schickte den Star der Aufführung in den eiskalten Zürichsee.
Die Premiere von Sarah Kanes «Gier» ist gerade vorbei, die Leute stehen frierend an der Tramhaltestelle – und reden nur über eins: Wie hat Wiebke Mollenhauer das geschafft? Wird sie es wieder tun? Wird sie es überhaupt verkraften oder wegen Lungenentzündung ausfallen?
Regisseur Christopher Rüping, der gerne mal ein Planschbecken auf die Bühne baut, hat die Sache diesmal ein paar Nummern grösser angerichtet: im Zürichsee. Gegen Ende der rund zweistündigen Aufführung auf der Pfauenbühne wird nämlich die junge Frau, die bis dahin fast wortlos agierte, den sehnsuchtsvollen Text dafür aber mit ihrer Mimik auf einer riesigen Leinwand kommentierte, den Raum verlassen. Und später als Liveprojektion wieder auf der Leinwand auftauchen: Wir sehen sie, wie sie in dicker Daunenjacke an Restaurants vorbeijoggt, Strassen kreuzt, den See entlangläuft, am Utoquai-Freibad ankommt.
«Ich überquerte einen Fluss … frei zu sein von Erinnerung», sagt gleichzeitig dazu auf der Pfauenbühne die Figur namens C, gegeben von Sasha Melroch – die Westschweizerin ist seit Herbst am Schauspielhaus Zürich. «Frei von Begehren», schiebt M dazwischen: Die Stimme, welche die Autorin selbst in einem Interview als jene einer Mutter, einer älteren Frau, beschrieb, gehört hier Maja Beckmann. «Untertauchen», sekundiert C, die traumatisierte Jüngere. «Nichts sagen», ergänzt B, Sarah Kanes «boy», den Steven Sowah spricht.
«Vergiss nicht den Anstand!», knurrt Benjamin Lillies A, ein missbrauchender Mann – «Arschloch» sei eine ziemlich gute Bezeichnung für ihn, sagte Kane in besagtem Interview; aber sie habe die Stimmen A, B, C und M im Stücktext bewusst nicht spezifiziert. Kostümbildnerin Lene Schwind hat das erstklassige, virtuos interagierende Ensemble denn auch in form-, farb- und geschlechtslose knielange Hemden und weite Hosen gesteckt.
Wiebke Mollenhauer steht nun also an der Treppe neben dem Freibad, entledigt sich aller Kleider bis auf einen Badeanzug. Dann steigt sie tatsächlich ins kalte Wasser, schwimmt hinaus ins Dunkel. Bevor man aber schockiert ist über eine solche brutale suizidale Vereindeutigung – Sarah Kane nahm sich 1999, mit 28 Jahren, das Leben –, kommt Mollenhauer zurückgeschwommen, spritzt und prustet, taucht, spielt muntere Wassernixe.
«Glücklich und frei» sind die berühmten letzten, ambivalenten Worte des Stücks: eine tröstliche Vision des «freien Falls» hinein in eine «Welt ohne Ende», ein «gleissendes weisses Licht».
Black. Unter dem tosenden Applaus verneigen sich nicht nur die vier auf der Bühne, sondern via Live-Cam auch die in einen Bademantel gewickelte, sichtlich ausgekühlte Aussendienstmitarbeiterin. Mollenhauer hat für ihre Schwimmeinlage im See extra ein Training absolviert. Und so beeindruckend die Inszenierung – die, zugegeben, da und dort Straffungen vertragen könnte – insgesamt war: Vor dem spektakulären Kaltbaden-Gag (man muss es fast so sagen) verblasst alles andere.
Alles andere: Das ist das dramatische Langgedicht der labilen Britin, in dem sie wieder und wieder den Verletzungen aus Kindheit und Jugend nachgeht und auch unserer grundsätzlichen Unfähigkeit, uns selbst und andere wirklich zu lieben. In «Gier», ihrem vierten und zweitletzten Stück, wechselte Kane, die zuvor mit direkten, gewalttätigen Bühnenfantasien irritiert hatte, auf eine abstraktere Ebene – ohne jedoch Pädophilie, Vergewaltigung, Betrug und die Gewalt daheim aussen vor zu lassen.
So entstand eine Stimmenpartitur, die Gefühlschaos und Gottverlassenheit spiegelt. Mollenhauer und Livemusiker Christoph Hart operieren da quasi als Doppelspiegel. Hart hat sich für den Soundteppich ein Trio zusammengestellt (zwei Geigen, ein Cello), das zu seinem popklassisch angehauchten Track geisterhaft an der Rampe aufsteigt und versinkt. Zwischenrein gibt Mollenhauer mit Britney Spears’ «Toxic» einen Playback-Auftritt voller stummer Anklagen, und das restliche Ensemble intoniert schräg Joe Cockers «You Are So Beautiful» sowie James Blunts «You Are Beautiful»: ein ungesunder Erlösungstraum, nichts ist feststofflich.
Was machen wir mit unseren Psychokrisen?
Wahr ist allein das unerbittliche Vergehen der Zeit, ist der zum Schrei aufgerissene Mund, sind die geweiteten Augen, die sich mit Tränen füllen: Die vierstimmige Fuge des Wehs wird durch Mollenhauers Antlitz mal konterkariert, mal illustriert. «Geht es darum, den Akt des Zuhörens auszustellen?», fragt das Programmheft – und werde damit auf die Geschäftemacherei verwiesen, die man heute in den sozialen Medien mit jeder Psychokrise betreibe?
In grossartigen anekdotischen Momenten veranschaulicht Rüping jedenfalls immer wieder, wie sich Menschen ver(b)rennen, wenn sie sich einander annähern wollen, im Schär-Stei-Papier-Spiel ebenso wie beim buchstäblich nackten, leidenschaftlichen Liebesschwur. Etliche derartige Highlights akzentuieren die individualistische, bisweilen freilich etwas zerfasernde Jeremiade. Mal berührt sie uns mit ihren Wogen des Leids, mal scheinen ihre toxischen Vibes die Aufführung selbst zu vergiften. Und wir träumen von einem Sommerschwumm im See.
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