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Robert Menasse im Interview
«Der Nationalismus kann sein Versprechen nicht halten»

Samstags-Interview mit Autor Robert Menasse über Europa/Schweiz-Europa, Rechtsruck, Österreich. © Adrian Moser / Tamedia AG
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Was er vom Wiederaufflammen des Nationalismus in Europa halte, lautete die Frage bei einer von Orell Füssli organisierten Lesung Robert Menasses in Bern. Der österreichische Schriftsteller antwortete mit bissigem Wiener Schmäh: «Bei einer Leiche wachsen die Fingernägel vorerst auch noch.»

Robert Menasse ist ein scharfer Kritiker des Nationalismus. Die «NZZ am Sonntag» hat ihn jüngst als «letzten Europäer» bezeichnet. Das mag übertrieben klingen. Mit seinen beiden Romanen «Die Hauptstadt» und «Die Erweiterung» hat sich der 70-jährige Wiener Autor aber als profunder Kenner und Verteidiger der Grundidee der Europäischen Union in Position gebracht: «Nie wieder Nationalismus, nie wieder Krieg.» Menasses zuletzt erschienener Essay «Die Welt von morgen» ist ein Plädoyer für eine Rückkehr der Europäischen Union zu ihren Wurzeln als «nachnationale Demokratie».

Herr Menasse, der neue österreichische Parlaments­präsident Walter Rosenkranz (FPÖ) hat als ersten Staatsgast den rechtsnationalen ungarischen Minister­präsidenten Viktor Orban empfangen. Was ist los in Österreich?

Ich halte die Wahl von Walter Rosenkranz zum Parlamentspräsidenten für einen Skandal. Er ist Mitglied einer deutschnationalen schlagenden Studentenverbindung. Ein Deutschnationaler als Parlamentspräsident der Republik Österreich geht nicht. Die Fraktionen, die ihn gewählt haben, begründen dies mit der parlamentarischen Praxis, der sogenannten Usance: Bisher wurde immer der Kandidat der stimmstärksten Partei zum Parlamentspräsidenten gewählt. Aber das steht nicht in der Verfassung, die Abgeordneten sind frei. In einer westlichen Demokratie darf Gewohnheitsrecht nicht über der Verfassung stehen.

Sie nennen Herrn Rosenkranz «deutschnational». Das würde ja heissen, dass er für einen erneuten Anschluss Österreichs an Deutschland ist?

Das glaube ich gar nicht. Das ist eher identitär zu verstehen: deutsche Kultur als völkisches Geraune. Es genügt, zu wissen, dass er in einer entsprechenden Verbindung Mensuren gefochten und Schmisse im Gesicht hat. Man muss nicht mehr wissen. Und er kann tonnenweise Kreide fressen.

In seiner Antrittsrede hat er sich aber gegen Antisemitismus ausgesprochen.

Wie gesagt: Er kann gut Kreide fressen. Mittlerweile sind ja diesen Menschen die Aushöhlung der Demokratie, die Aufhebung der Gewaltentrennung und die Behinderung der öffentlich-rechtlichen Medien viel wichtiger als der Antisemitismus. Jeder Antisemit kann den Satz: «Ich bin kein Antisemit» unfallfrei sagen, bevor er «aber» sagt. Wenn die ÖVP eine aufgeklärte bürgerliche Partei wäre, hätte sie einen wie Rosenkranz niemals zum Parlamentspräsidenten wählen dürfen.

Es sieht so aus, als ob ÖVP, SPÖ und Neos um die Freiheitlichen herum eine Regierung bilden. So könnte eine Regierungs­beteiligung der FPÖ vermieden werden.

Das ist nicht sicher. Ich halte es nach wie vor für möglich, dass die ÖVP dem Wunsch der Industriellenvereinigung nachgibt und doch mit der FPÖ koaliert. Das ist aber insofern egal, als die ÖVP programmatisch mit den Freiheitlichen mittlerweile verwechselbar ist.

Aber die FPÖ wurde einst als Sammelbecken ehemaliger Nazis gegründet.

Als «österreichische Heimatpartei» ist sie heute im Grunde aber eine austrofaschistische Partei. Und die ÖVP ist die Nachfolgepartei der Austrofaschisten.

«Der Austrofaschismus galt nach 1945 als Widerstand.»

Eine austrofaschistische Partei und die Nachfolgepartei der Austrofaschisten, wie Sie es ausdrücken, sind demnach die stärksten Parteien in Österreich?

Das hat historische Gründe. In Österreich ist zwar der Nationalsozialismus aufgearbeitet worden, aber nicht die Zeit des Austrofaschismus 1933–1938. Im Gegenteil. Der austrofaschistische Kanzler Engelbert Dollfuss, der für die Souveränität Österreichs eingetreten ist, wurde von den Nationalsozialisten im Juli 1934 ermordet. Dadurch galt der Austrofaschismus nach 1945 als Widerstand. Das muss man sich mal vergegenwärtigen: Der Widerstand in Österreich war faschistisch. Und mehr noch: Er wurde zum Synonym für Patriotismus. Es war dann in Österreich einfach, den Alltagsfaschismus weiterzuleben, weil er Synonym für patriotisch war. Und die Mehrheit in Österreich besteht aus Patrioten.

In Ihrem Essay «Die Welt von morgen» schreiben Sie: «Der Nationalismus hat keine Zukunft.» Dafür ist er aber ziemlich kräftig.

Ich hab ja nicht geschrieben, dass er in der Gegenwart nicht kräftig sei, sondern dass er keine Zukunft hat. Die grossen Herausforderungen und Krisen, die bewältigt werden müssen, kann kein Nationalstaat allein bewältigen. Der Nationalismus kann den Leuten lediglich versprechen, sich exklusiv um das eigene Volk zu kümmern, auch wenn die Welt untergeht. Aber er kann dieses Versprechen nicht halten. Er kann dann nur Sündenböcke anbieten und Aggressionen anstacheln.

Was geschieht, wenn er es nicht hält?

Die Frage ist: Braucht es einen wirklichen Zusammenbruch mit Wirtschaftskrise, Elend und vielleicht sogar Bürgerkrieg, um am Ende erkennen zu müssen: «Das soll nie wieder geschehen; es braucht eine gemeinschaftliche europäische Politik»? Oder dann hält die Politik kurz inne und fragt sich, wie wir in Europa aus der Misere rauskommen, bevor alles den Bach runtergeht.

Ersteres klingt wie eine Neuauflage der Erkenntnisse von 1945.

Natürlich. Das Problem ist, dass Menschenleben zu kurz sind, um die Geschichten der Urgrossväter und -mütter erzählt zu bekommen.

Sie sehen die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel als Figur, die den Wechsel zum Primat der nationalen Interessen in der EU eingeleitet hat. Das erstaunt insofern nicht, als sie die Erste in diesem Amt war, die nach dem Krieg geboren wurde.

Für ihren Vorgänger Helmut Kohl war sonnenklar: Deutsche Politik muss immer auch Europapolitik sein. Angela Merkel gehörte nicht nur zur Nachkriegsgeneration, sie wurde einst in der DDR sozialisiert. Ihre Vision war es, einen Reisepass und mehr Konsummöglichkeiten zu erhalten. Damit war für sie die Geschichte nach der Wiedervereinigung zu Ende. Sie hatte keine europapolitische Vision. Sie hat die Gemeinschaftsmethode aufgekündigt und begnügte sich mit bilateralem Interessensausgleich zwischen Nationalstaaten. Seither gibt es in der EU eine Krise nach der anderen.

European Commission President Jean-Claude Juncker, left, is welcomed by German Chancellor Angela Merkel on the first day of the G-20 summit in Hamburg, northern Germany, Friday, July 7, 2017. The leaders of the group of 20 meet July 7 and 8. (AP Photo/Jens Meyer)

In der Schweiz stellen sich beim Rahmenvertrag Probleme, wie sie in den Grundzügen auch im Verhältnis der Mitgliedsländer zur EU auftreten: Die Nationalisten wollen keine «fremden Richter», die Gewerkschaften wollen die Löhne und Arbeitsplätze schützen.

Der gemeinsame Rechtszustand ist der Kern der EU. Alles andere, der gemeinsame Markt, die offenen Grenzen, die gemeinsame Währung, basiert darauf. Die Nationalisten sehen im gemeinsamen Rechtszustand einen Verrat an der nationalen Souveränität. Das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist, dass jedes Land glaubt, es habe etwas zu verteidigen, und nicht sieht, was es zu gewinnen gibt. Heute werden in der Union nur noch Interessen ausbalanciert, aber die Gemeinschaftspolitik und ein gemeinsamer Rechtszustand für alle Bürgerinnen wird nicht mehr weiterentwickelt. Dabei ginge es ja um die Souveränität der Bürgerinnen und nicht die Souveränität der Nationen.

«Die Schweiz sollte erst einen Beitritt ins Auge fassen, wenn die EU demokratisch wird.»

Was heisst das für ein Land wie die Schweiz, das sein Verhältnis zur EU neu regeln muss?

Die Schweiz sollte erst dann einen EU-Beitritt ins Auge fassen, wenn die EU demokratisch wird: mit der Europäischen Kommission als Regierung, dem EU-Parlament als europäischer Volksvertretung und der Entmachtung des EU-Rats. Heute wird die Kommissionspräsidentin vom Rat der nationalen Staats- und Regierungschefs ausgeschnapst. Zudem entscheidet derselbe Rat darüber, ob Mehrheitsentscheide des Parlaments umgesetzt werden. Das ist grotesk.

In der Schweiz wird auch befürchtet, dass demokratische Rechte wie die Möglichkeit zur Ergreifung von Initiativen und Referenden verloren gehen könnten.

Das trifft nicht zu. In den EU-Verträgen ist das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben. Es besagt, dass Aufgaben immer von der untersten Ebene einer Hierarchie gelöst werden sollen. Das lässt sich durchaus mit plebiszitären Elementen auf regionaler Ebene verbinden. Das Problem in der EU ist, dass der Begriff Subsidiarität missbraucht wird als Begriff zur Verteidigung nationaler Interessen.

Sie wollen, dass die nationalen Interessen in der EU zurückgebunden werden. Als historisches Modell für einen Vielvölkerstaat sehen Sie die Donaumonarchie. Wie meinen Sie das?

In der Donaumonarchie konnte man zum Beispiel mit derselben Bahn von Lwiw nach Triest fahren. Heute haben wir in Europa 27 nationale Bahngesellschaften. Was war die Habsburgermonarchie? Gemeinsamer Markt, gemeinsame Währung, gemeinsame Verwaltung, gemeinsames Parlament und eine gemeinsame Armee auf der Basis einer Vielzahl von Kulturen, Mentalitäten und Sprachen, die den Reichtum der Monarchie ausgemacht haben. Das ist nicht zusammengebrochen, weil es nicht funktioniert hat, sondern weil die Monarchie von den Nationalisten in die Luft gesprengt wurde. Danach folgten zwei Weltkriege.

Die Monarchie ist Vergangenheit. Und heute gibt es kein europäisches Narrativ, das so viel Zusammen­gehörigkeits­gefühl vermittelt, wie nationale Mythen es tun.

Die EU hat ein Narrativ. Aber es wurde vergessen. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen Millionen von Menschen unter der Parole «Nie wieder Krieg» auf die Strasse. Und was geschah? Es kam kurz darauf wieder zu einem grossen Krieg. Die Gründergeneration des europäischen Projektes hat begriffen, dass das Problem die Friedensverträge sind. Sie sind bloss ein Termingeschäft, das das Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben ist. Alle Staaten, die in den Zweiten Weltkrieg verwickelt waren, hatten untereinander Friedensverträge. Die Ukraine und Russland haben einen Friedensvertrag. Die geniale Idee der Gründergeneration der EU war, Frieden zu schaffen ohne Friedensverträge, sondern durch die Verflechtung von Nationalökonomien und die Herstellung wechselseitiger Abhängigkeiten. Sodass kein Staat mehr etwas gegen einen anderen Staat unternehmen kann, ohne sich selber zu schaden.