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«Das grosse Spiel» von Richard Powers
Die Wunder der Welt unter Wasser

Portrait of Richard Powers 25/10/2021 ©Patrice Normand/Leextra via opale.photo
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In Kürze:
  • Der neue Roman von Richard Powers thematisiert die Metapher des Spiels als zentrales Element.
  • Evelyne Beaulieu erforscht die Meere und hinterfragt menschliche Selbstverständlichkeit.
  • Der Roman verbindet Naturschutz mit kritischen Zukunftsfragen der künstlichen Intelligenz.

Der Mensch, sagt Schiller an einer berühmten und viel zitierten Stelle, ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Wäre Richard Powers ein deutscher Autor, so würde er auf das Schiller-Zitat in seinem neuen Roman kaum verzichten, bildet das Spiel doch die Super-Metapher von «Playground», wie das Buch im Original heisst (auf Deutsch: «Das grosse Spiel»). Stattdessen zitiert er Shakespeares Drama «Der Sturm», das – wie «Playground» in Teilen – auf einer Insel spielt, sowie Arthur C. Clarke, der geschrieben hat, der Planet Erde müsste viel sinnvoller «Ozean» heissen – sind doch 70 Prozent seiner Oberfläche von Wasser bedeckt und befinden sich 99 Prozent der Biomasse unter Wasser.

Unter Wasser spielt Powers’ Roman auch auf vielen Seiten, und sie gehören zu den inspiriertesten des Buches (was man gern auch der inspirierten Übersetzung von Eva Bonné zugutehalten möchte). Manche Leser, wenn sie noch jung genug sind, könnten nach der Lektüre aus lauter Begeisterung gar beschliessen, ihr Leben den Wundern des Meeres zu widmen.

Eine Frau kämpft sich durch die Männerwelt

So hat es eine der vier Hauptfiguren von «Playground» getan. Evelyne Beaulieu, Kanadierin aus Montreal, wird als Zwölfjährige von ihrem Vater mit einer gerade entwickelten Sauerstoffmaske ins Wasser geworfen und möchte fortan gar nicht mehr heraus. Als junge Erwachsene kämpft sie sich durch die männerbeherrschte Wissenschaft und Taucherszene und wird eine Expertin und erfolgreiche Vermittlerin der Unterwasserwelt (Powers hat seine Figur der realen Meeresbiologin Sylvia Earle nachgebildet).

Die Welt, die Evelyne Hunderte Meter unter der Meeresoberfläche findet, ist nicht nur von unglaublicher Schönheit und Vielfalt, sondern stellt auch die anmassende Selbstverständlichkeit infrage, mit der sich der Mensch seine Einzigartigkeit innerhalb der Schöpfung bescheinigt.

Meerestiere sind intelligent, haben Gefühle und kommunizieren, wie wir. So begegnet Evelyne bei einem Tauchgang ein Riesenmanta, der sich in ein Netz von Wilderern verwickelt hat, sie buchstäblich um Hilfe bittet und sich, als er losgeschnitten wird, mit einer dreimaligen Kreisbewegung «bedankt». Andere Rochen treiben etwas mit ihr, das sie nicht anders als ein «Spiel» deuten kann – es hat keinen funktionalen Zweck und dient nur dem Vergnügen. Einmal beobachtet sie eine Riesensepia bei einem Tanz, der mit einem imposanten Farbspiel auf ihrem Rücken einhergeht: Ist es ein Gebet, ein Schauspiel? Und wenn ja, für wen?

Image was taken in the shallows along the coastline just south of Point Lowly, which is just north of the town Whyalla.

Einspruch: Ist das nicht Vermenschlichung tierischen Verhaltens, das wir nicht verstehen? Evelyne, schreibt Powers, hatte sich lange selbst vom «Anthropomorphismus-Verbot» einschüchtern lassen, dann aber begriffen, dass das nur ein «perfides Argument für die Sonderstellung des Menschen» war. Nein, Anschauung und Erfahrung sagen ihr: So wie die Evolution das Gehirn des Menschen spielerisch erschaffen hat, so lässt es auch Säugetiere, Delfine und Mantas spielen.

Eine Facebook-Google-Twitter-Kombination

Von einer noch ganz anderen Seite greift Richard Powers in seinem Roman die Sonderstellung des Menschen an. Todd Keane, die zweite Hauptfigur, hat sich zwar als Jugendlicher für Evelyne Beaulieus Meeres-Bestseller «Ganz klar der Ozean» begeistert, wird dann aber doch nicht Ozeanograf, sondern entdeckt die Reize des Programmierens und erfindet die Plattform «Playground», eine Art Facebook-Google-Twitter-Kombination, die Hunderte Millionen Menschen zusammenbringt, abhängig macht und ihm Milliarden Dollar einspielt.

Keane will aber mehr, nämlich aus all den gesammelten Daten und Informationen die nächste Stufe der digitalen Revolution erreichen: eine künstliche Intelligenz. Diese soll die Menschheit führen – oder ablösen? So genau wissen wir das nicht, denn als wir Keanes entsprechenden Gedanken beiwohnen, sind wir im Jahr 2027, am Anfang des Romans, aber am Ende seines Lebens: Keane ist erst 57, aber von «Lewy-Körper-Demenz» befallen, die sein Gehirn zerfrisst.

Der Wunschtraum aller Silicon-Valley-Milliardäre

Es ist also, wie immer bei Richard Powers, kompliziert. Wir lesen, in Kursivdruck, wie Todd Keane einem Du sein Leben erzählt, sein Aufwachsen in Evanstone, Illinois (wo auch Powers aufgewachsen ist), seine Freundschaft mit dem hochbegabten Schwarzen Rafi, mit dem er sich in epischen Schach- und Go-Turnieren misst, ihre beider Liebe zu der Kunststudentin Ina Aroita aus Tahiti, die entscheidende Idee Rafis für «Playground», das Zerwürfnis der beiden Freunde.

Das «Du», stellt sich nach und nach heraus, ist eine künstliche Intelligenz, der «Enkel» der ersten Version, die dritte und beste, die die Welt übernehmen soll. Was das bedeuten soll – virtuell oder wirklich? Das wüssten auch die 82 Bewohner von Makatea gern, einer Koralleninsel im Pazifik, wo ein amerikanisches Konsortium eine schwimmende Plattform errichten will, eine künstliche Stadt, keiner staatlichen Autorität mehr unterworfen, der Wunschtraum aller Silicon-Valley-Milliardäre. Hinter dem Konsortium steckt natürlich Todd Keane.

Makatea, Tuamotu Archipelago, French Polynesia. (Photo by: Sergio Pitamitz/VW Pics/Universal Images Group via Getty Images)

Auf der Insel, auf der viele Jahrzehnte Phosphat abgebaut wurde, was eine Mondlandschaft hinterlassen hat, die sich langsam von der Verwüstung erholt, hält sich der Roman viele lange Seiten auf, stellt uns die Bewohner vor, ihre Interessen, das Für und Wider des Projekts – es könnte Arbeitsplätze geben, ein Krankenhaus … -, es gibt eine Volksabstimmung. Das ist ein langer und langfädiger Teil des Buches, nicht der gelungenste. Zum Glück verbringt auch Evelyne Beaulieu ihre letzten Jahre auf Makatea, mit 92 taucht sie immer noch und hat das Staunen über die besonderen Sinnesleistungen der Meerestiere nicht verlernt.

Das ist dann wieder ein Fest für die Leser: «Haie, die zwei Drittel ihrer Gehirnmasse dafür einsetzten, einen Tropfen Blut in mehreren Millionen Tropfen Wasser zu riechen. Parasitische Würmer, die über ihre Haut Wärme schmecken konnten. Blinde Höhlenfische, die ferne Objekte mit Zellen wahrnehmen, die sich an ihren Körperseiten verbargen. Tümmler, Delfine und Schwertwale, deren Ohren winzige vergrabene Objekte unterscheiden konnten. Elefantenrüsselfische, die mit dem Kinn Elektrizität rochen. Meeresschildkröten, die sich am Ziehen und Zerren der Erdmagnetfelder orientierten.» Da sieht der Mensch mit seinen kümmerlichen fünf Sinnen doch recht alt und arm aus. Derselbe Mensch wiederum, der all diesen Reichtum systematisch ruiniert.

Ein Zauberer, ein Bändiger von Stoff- und Informationsmassen

Richard Powers hat in «Die Wurzeln des Lebens» (2018) die Welt der Bäume als die bessere Zivilisation geschildert; jetzt ist es die Welt unter Wasser (dass es da auch um Fressen und Gefressenwerden geht, ist für ihn kein Thema). Die Grossmetapher des Spiels dient ihm auch dazu, den Gegensatz zu verschärfen: Selbstgenügende, zwecklose Spiele der Wassertiere – Kampfspiele, bei denen es immer um Sieg und Niederlage geht, um Vernichtung des Gegners, bei den Menschen.

Richard Powers erweist sich in seinem vierzehnten Roman erneut als grandioser Erzähler, als veritabler Zauberer, ein Bändiger von Stoff- und Informationsmassen, und als ein bewundernswerter Konstrukteur – denn sein Buch ist selbst auch eine «neue Lebensform», weiss man doch nicht, ob es nicht die KI ist, die die nicht kursiven Passagen geschrieben hat.

Aber er ist auch immer ein bisschen ein Prediger. Hier predigt er Demut vor der Schöpfung, der unter der Wasseroberfläche, von der wir so wenig wissen. Und die wir, weil wir die Meere aufheizen und verschmutzen, zerstören, noch ehe wir ihren Reichtum ganz erkannt haben, geschweige denn zu würdigen gelernt haben. Er glaubt wohl kaum an die Wirksamkeit seiner Predigt. Aber auch die Propheten des Alten Testaments wussten ja, dass ihre Warnungen in den Wind geschlagen wurden.

Richard Powers: Das grosse Spiel. Roman. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Penguin, München 2024. 510 S., ca. 37 Fr.