Reporter entlarven die russischen «Touristen»
Die Verdächtigen im Fall Skripal sollen harmlose Geschäftsleute sein, sagt Moskau. Passdokumente zeigen nun: Petrow und Boschirow sind Tarnnamen.
Mit getragener Stimme spricht die britische Premierministerin am 5. September im Unterhaus folgende Worte: «Gestützt auf Geheimdienstinformationen kann ich dem Haus heute sagen, dass die zwei von der Polizei identifizierten Personen Mitglieder des russischen Militärgeheimdienstes sind, auch bekannt als GRU.»
Der Giftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter Julia in Salisbury am 4. März sei auf «hoher Ebene des russischen Staates» befohlen worden. Die britischen Sicherheitsbehörden hatten zuvor Überwachungsbilder der Verdächtigen veröffentlicht. Diese landeten unter den Namen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow am 2. März am Flughafen Heathrow in London. Zuvor reisten sie mehrfach in die Schweiz, wie Redaktion Tamedia aufdeckte.
Die russischen Propagandasender Russia Today und Sputnik bezeichneten Mays Aussagen umgehend als «Lüge». Und Präsident Wladimir Putin behauptete, die beiden seien «natürlich Zivilisten». Petrow und Boschirow konnten tags darauf ihre Geschichte gleich selber erzählen. In einem Interview mit Russia Today erklärten die Männer, sie hätten lediglich die Kathedrale in Salisbury besichtigen wollen, als «Touristen».
Als hätten sie vorher nicht existiert
Jetzt hat das Recherchenetzwerk Bellingcat in zwei Berichten (hier und hier) detailliert die Verbindungen der beiden Verdächtigen zum russischen Geheimdienst GRU aufgezeigt. Die Journalisten kommen zum Schluss, dass Alexander Petrow und Ruslan Boschirow falsche Identitäten des GRU sind. Bellingcat erlangte internationale Bekanntheit, als das Netzwerk nach jahrelangen Recherchen belegen konnte, dass der Abschuss des Fluges MH17 über der Ukraine mit russischen Raketen erfolgte. Die internationalen Ermittler unter Leitung der Niederländer kamen später zum gleichen Schluss.
Die Untersuchungen zum Fall Skripal stützen sich auf Dokumente der russischen Einwohnerbehörde. Demnach wurden Alexander Yewgeniewitsch Petrow 2009 und Ruslan Timurowitsch Boschirow 2010 als Bürger registriert. Die Geburtsdaten und Passfotos stimmen mit den Angaben der Airline Aeroflot überein, mit der Boschirow und Petrow nach London reisten.
Vor 2009, beziehungsweise 2010 existieren laut dem Bellingcat-Bericht zu den beiden keine Einträge in der zentralen Datenbank – als hätten Petrow und Boschirow vorher gar nicht existiert. Üblicherweise sind dort abgelaufene Identitätskarten, Wohnortwechsel und ähnliche Angaben festgehalten.
Die persönlichen Dokumente weisen zudem einige Eigenheiten auf: Beide Dossiers sind mit einem Stempel mit der Aufforderung «Keine Auskunft geben» markiert. Dazu eine Telefonnummer des russischen Verteidigungsministeriums, dem der Militärgeheimdienst angeschlossen ist. Und daneben eine handschriftliche Notiz: «Da gibt es einen Brief. S.S.» Die Abkürzung S.S. steht für «sowerschenno sekretno», russisch für «top secret».
Absender: GRU-Hauptquartier
Das stärkste Indiz für die Bellingcat-Reporter sind die Passnummern auf den internationalen Reisepässen. Sie sind bis auf die letzte Ziffer deckungsgleich: 654341297 für Petrow, 654341 294 für Boschirow. Und die Pässe sind im zivilen Personenregister nicht aufgeführt. Daraus schliessen die Autoren, dass erstens beide Pässe von der gleichen Behörde ausgestellt wurden, die zweitens ausserhalb des zivilen Staatswesens operiert.
Eine weitere Verbindung zum Geheimdienst stellt Bellingcat über einen im Frühling enttarnten GRU-Offizier her: Eduard Schischmakow, alias Eduard Schirokow. Der Agent wurde 2014 von Polen wegen Spionage ausgewiesen. 2016 soll er laut früheren Recherchen einen Coup gegen die prowestliche Regierung Montenegros unterstützt haben. Das Geld dafür sendete er von der Adresse des GRU-Hauptquartiers in Moskau.
Schischmakows falscher Pass weist die gleiche Nummernfolge auf, wie die der beiden Skripal-Verdächtigen: 654341 mit den Endziffern 323. Das heisst also, die drei Pässe stammen von der gleichen Behörde – wahrscheinlich vom GRU selber, oder einer dem Geheimdienst nahestehenden Institution.
Die Antwort von Moskau auf die Bellingcat-Enthüllungen kam postwendend: Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte am Montag, er glaube Präsident Wladimir Putin mehr als «anonymisierten Informationen über irgendwelche Telefonnummern».