Reportage aus BangladeshWenn selbst Schulbücher nie trocken werden
Durch den Klimawandel verursachte Überschwemmungen zwingen Tausende Menschen in Bangladesh in Slums zu wohnen, wo katastrophale hygienische Bedingungen herrschen. Betroffene erzählen, welche Hilfe sie dringend brauchen.
Dieser Artikel stammt aus der Schweizer Familie
Zuerst verschlang der Fluss die Felder und Wiesen. Die wenigen Kühe, Ziegen und Hühner fanden kaum noch einen trockenen Platz. Der Bauer hoffte Tag für Tag, das Wasser möge nicht weiter steigen. Doch irgendwann erreichte es die Veranda seines Hauses. Da wusste Nur Ahmed Sheik, dass er mit seiner Familie die Heimat verlassen musste. Einige Tiere konnte er verkaufen, andere blieben zurück. Sie gingen mit dem restlichen Hab und Gut unter.
Das war 2018. Ähnlich wie dem inzwischen 64-Jährigen, seiner Frau, seinen Kindern und Enkeln ergeht es Hunderttausenden in Bangladesh.
Der südasiatische Staat ist eines der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder. Ein Grossteil des Landes liegt bloss wenige Meter über dem Meeresspiegel. Dieser steigt kontinuierlich, und das Meer droht einen Fünftel der Fläche dauerhaft zu überfluten. Hinzu kommt, dass Flüsse über die Ufer treten und wertvollen Boden abtragen.
Auch tropische Wirbelstürme mit extremen Regenfällen auf der einen Seite und harte Dürreperioden auf der anderen zwingen die Menschen, in urbane Gebiete abzuwandern. Etwa in die Stadt Khulna. Deren Bevölkerung ist in der letzten Dekade um 20 Prozent auf anderthalb Millionen Menschen gewachsen.
Arbeitsstellen sind rar, die Unterhaltskosten hoch. Deshalb leben ungefähr 500'000 Personen in inoffiziellen Siedlungen, wo Wasserversorgung und sanitäre Anlagen unzureichend sind. Fäkalien dringen direkt in die Umwelt, verunreinigen Gewässer und Erde.
In einem der 302 Armutsviertel wohnt nun der ehemalige Bauer Nur Ahmed Sheik mit seinen Angehörigen.
Der Klimaflüchtling zog von Madaripur im Süden Richtung Südwesten. «Weg vom Fluss Padma, der uns alles genommen hat», sagt er.
In Khulna angekommen, fragte er auf den Strassen nach einer Bleibe und gelangte ins Quartier Bastuhara. Der Name bedeutet sinngemäss: Ort der Leute, die ihre Heimat verloren haben.
Die Cholera bricht aus
Dort leiden die Menschen wie in allen Slums der Stadt unter den unhygienischen Bedingungen. Sie haben Hautinfektionen, Parasiten oder Durchfall. Vor allem Kinder werden ohne sauberes Wasser krank. Sie können nicht zur Schule gehen und ihr Potenzial nicht ausschöpfen, sind in der geistigen und körperlichen Entwicklung gehemmt.
Fast jährlich bricht zudem eine Cholera-Epidemie aus, bei der jeweils mehr als 3000 Menschen sterben, darunter viele Kinder. Dafür, dass sie Zugang zu sauberem Wasser und angemessenen Toiletten mit einem richtigen Klärsystem erhalten, setzen sich heuer die «Sternenwochen» ein. Zusätzlich feiert die Spendenaktion von Unicef Schweiz und Liechtenstein sowie der «Schweizer Familie» ein Jubiläum: Seit zwanzig Jahren sammeln Kinder für Altersgenossen in Armut. Angefangen hat alles in Bangladesh, wohin das 2023 gesammelte Geld erneut fliessen wird.
Seit Juni treibt der Südwestmonsun Regen über das Land. Im Slum Bastuhara blickt Roshni Sheik, 9, in der Hütte zum Dach, von wo es zu tropfen beginnt. Sie ist nicht verwandt mit Nur Ahmed. Sheik ist für Ledige und Männer ein geläufiger Name; wie Begum für verheiratete Frauen. Allerdings teilen das kleine Mädchen und der ältere Herr im Armutsviertel das gleiche Schicksal: zu viel Wasser, zu wenig sauberes. «Ich mag den Regen nicht», sagt Roshni. «Er macht alles nass. Meine Kleider, meine Schulbücher, unser Bettzeug. Einfach alles!» Sie, ihre vier Geschwister, die Eltern und die Grossmutter sind regelmässig krank. Mutter Taslima Begum, 45, betont: «Kinder sollten nicht in solchen Verhältnissen aufwachsen. Ich würde meinen gerne mehr bieten.»
Roshni Sheik, 9, aus dem Slum Bastuhara: «Der Regen macht mich traurig. Denn Wasser tropft durch unser Dach, dringt über unsere Schwellen. Der Flur wird nass und rutschig, unsere Möbel werden umspült, die Kleider durchtränkt. Unsere Haut ist meistens feucht. Häufig sind wir erkältet – eigentlich fast immer. Der Husten hört gar nie richtig auf.
»Das Wertvollste, was ich besitze, sind meine Schulbücher.«
Das Wertvollste, was ich besitze, sind meine Schulbücher. Ich versuche, sie vor dem Wasser zu schützen. Leider gelingt mir das selten. Im Frühling haben meine Eltern mit Erde den Grund des Hauses aufgeschüttet, in dem wir mit meinen vier Geschwistern und der Grossmutter wohnen. So steht alles etwas höher, und der Boden sollte weniger überflutet werden. Genützt hat es aber nicht wirklich. Stattdessen sind jetzt die Decken niedriger, weshalb die Erwachsenen sich manchmal ducken müssen. Das finde ich doof.
Mühsam ist auch das Durcheinander, das jeden Morgen bei den vier Toiletten neben unserem Haus herrscht. Wir teilen unsere mit etwa zwanzig anderen Leuten. So viele Menschen! Immer ist ein Chaos! Die WCs sind weder besonders hygienisch, noch bieten sie genügend Privatsphäre. Darüber ärgern sich vor allem meine älteren Schwestern, die bereits in der Pubertät sind und ihre Monatsblutungen haben. Ich verstehe davon nichts.
Trotzdem wünsche auch ich mir ein Klo in unseren vier Wänden. Das Leben wäre einfacher und schöner. Wenigstens haben wir in unserem Innenhof eine eigene Pumpe. Das Wasser daraus ist allerdings nicht sauber. Darum bekommen wir Ausschlag, wenn wir uns damit waschen, und Durchfall, wenn wir es für unser Essen nicht lang genug aufkochen.
Wollen wir zu trinken, muss meine Grossmutter zehn Minuten zu Fuss zum Tiefbrunnen und mit den vollen Krügen zurück. Das kostet sie Kraft. Und sie muss ebenfalls dorthin, falls es mal nicht regnet. Weil dann nichts aus unserer Pumpe fliesst. Das ist ein Nachteil, ich weiss. Dennoch macht mich der Regen jedes Mal traurig.»
Klärsysteme für die Slums
Draussen vor der Tür waten die Leute in offenen Schuhen durch tiefe, schmutzige Pfützen. Vor allem Frauen sind mit ihren Gefässen unterwegs zu den Pumpen mit Trinkwasser. Davon stehen in Bastuhara zwei – für mehr als 2000 Menschen.
Die Rohre führen tief in den Boden. Das Wasser, das sie an die Oberfläche fördern, ist zwar sauber. Aber durch den steigenden Meeresspiegel mischt sich Süss- mit Salzwasser, wodurch sich der Salzgehalt erhöht.
«Salzhaltiges Trinkwasser kann zu Bluthochdruck oder Atemwegsinfektionen und bei Schwangeren zu Fehlgeburten führen», sagt Qausar Hossain, 53, der das Unicef-Büro in Khulna leitet.
Grabe man die Brunnen tiefer, nütze das lediglich kurzfristig. Hingegen könne man bei anderen Herausforderungen mit den richtigen Massnahmen beständigen Erfolg erzielen. Etwa bei den Klos, die meist nicht viel mehr als eine Öffnung im Boden ohne funktionierende Spülung sind.
Kot und Urin geraten in Gewässer oder in die Erde und verschmutzen das Wasser, welches die Familien zum Waschen oder Kochen benutzen. «Mit dem Geld aus der Schweiz wollen wir Wasseraufbereitungsanlagen installieren. Und wir unterstützen die Regierung in ihren Bestrebungen, Leitungen zu erweitern, damit mehr Leute Zugang zu keimfreiem Wasser haben.» Zudem entstünden in den inoffiziellen Siedlungen Klärsysteme.
Sichere Tanks sollen die Ausscheidungen auffangen. Der Schlamm wird abgeholt und zu Dünger umgewandelt. «Wir sind zuversichtlich, dieses Wasser-, Sanitär- und Hygieneprogramm bis 2025 abzuschliessen. Auch dank der ‹Sternenwochen›», erklärt Qausar Hossain. «Insgesamt können 80'000 Menschen profitieren.»
Eine bessere Infrastruktur wünscht sich Monira Khatun, 30, seit langem. Schon eine einzelne Toilette wäre für ihre Arbeit ein Segen. Die Pflegefachfrau besucht das Viertel Bastuhara sechs Tage die Woche, um nach der Bevölkerung zu schauen. Eine einfache Hütte aus Holz ist Wartezimmer und Krankenstation zugleich. An die zwanzig Frauen und Kinder sitzen darin, fächeln sich gegenseitig Luft zu.
Monira Khatun, 30, Pflegefachfrau in Khulna: «In der Bastuhara-Siedlung leben die Ärmsten der Armen. Ihre Leiden sind mannigfaltig, und sie werden vor allem durch Wasser verursacht. Jenes zum Trinken hat einen zu hohen Salzgehalt, und jenes für die Hausarbeiten ist verunreinigt. Ein richtiges System, das Fäkalien entsorgt, steht nicht zur Verfügung – die Ausscheidungen gelangen direkt in die Umwelt. Zudem versickert der Regen, der in dieser Zeit häufig fällt, nicht genügend. Die Leute waten durch Pfützen, ihre Häuser sind überflutet, die Kleider und Körper fast immer feucht. All dies führt dazu, dass die Menschen krank werden. Sie haben Parasiten, Hautausschlag oder Pusteln, Durchfall, Erkältungen und Fieber.
Ich bin ihre erste Anlaufstelle bei solchen Problemen und biete eine medizinische Grundversorgung. Täglich kommen rund 25 Personen zu mir. Als Erstes frage ich nach dem Befinden, messe den Blutdruck und die Temperatur, höre mit dem Stethoskop die Lungen ab, notiere das Gewicht, die Grösse. Mit Medikamenten versuche ich, die Beschwerden zu lindern. Reicht das nicht, schicke ich die Patienten ins städtische Gesundheitszentrum, wo sie behandelt werden.
»Selbst fliessendes Wasser fehlt hier, sodass wir uns die Hände nicht waschen, geschweige denn etwas trinken können.«
Zu meinen Aufgaben gehört auch, die Kleinkinder zu impfen, zum Beispiel gegen Tuberkulose, Diphtherie oder Masern. Und ich führe Schwangerschaftstests durch. Das ist schwierig. Die Frauen müssen auf ein Stäbchen urinieren, aber vor Ort haben wir keine Toilette. Selbst fliessendes Wasser fehlt hier, sodass wir uns die Hände nicht waschen, geschweige denn etwas trinken können. Ich hoffe, dass wir durch das Projekt von Unicef bald eine bessere Infrastruktur erhalten.
Doch ich möchte nicht klagen. Den Menschen zu dienen, ist mir ein Anliegen. Der Auslöser für meine Berufswahl war mein Vater: Vor mehr als 15 Jahren erlitt er einen Hirnschlag. Seither ist er gelähmt und auf die Pflege von mir und meiner Mutter angewiesen. Ich bin deshalb nie von zu Hause ausgezogen, habe nicht geheiratet und keine Kinder. Vielleicht wird sich dereinst mein Wunsch nach einer eigenen Familie erfüllen. Bis dahin kümmere ich mich um die Menschen in Bastuhara.»
Ein WC, zum Beispiel für Leute mit Durchfall, oder fliessendes Wasser gibt es nicht. «Meine Patientinnen und ich sitzen hier stundenlang in der Hitze, ohne etwas zu trinken oder uns die Hände waschen zu können», sagt Monira Khatun, während sie den Blutdruck einer Frau misst. Danach impft sie einen kleinen Jungen, verschreibt Medikamente. Kann sie nicht helfen, schickt sie die Leute zu ihrer Vorgesetzten, der Ärztin Farzana Ahmed, 26, ins nahe gelegene städtische Gesundheitszentrum. Es ist moderner eingerichtet. Eine Behandlung kostet 50 Taka, umgerechnet 40 Rappen.
Was nach wenig klingt, ist für manche viel, da ihr Lohn teilweise nicht einmal zwei Franken pro Tag beträgt. Landesweit sind von den über 170 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern rund ein Viertel von Armut betroffen. In Khulna sind es sogar 40 Prozent. Im Gesundheitszentrum erlässt das Personal jenen den Preis für die Konsultation, die im Moment nicht dafür aufkommen können.
Bappi Hossein, 10, und seine Tante gehören dazu. Der Knabe sagt: «Ich habe Pusteln auf der Haut, die jucken.» Farzana Ahmed untersucht seine Hände, Arme und Beine, erklärt ihm: «Wie viele Kinder hast du eine Allergie und Parasiten, weil du derart oft im Nassen bist.» Der Regen, sagt der Bub, dringe ins Haus seiner Tante, bei der er wohne, seit sein Vater die Familie verlassen habe. Das Wasser ströme in den Flur und spüle den Inhalt der Grubenlatrine bis in die Räume. Die Ärztin nickt und händigt Antibiotika, ein Antiallergikum, Tabletten gegen Pilzinfektionen und ein Entwurmungsmittel aus. «Damit wird dein Ausschlag hoffentlich bald gelindert», sagt sie und lächelt.
Ebenso wichtig wie Medizin wäre eine saubere Umgebung. Deshalb unterstützen die «Sternenwochen» auch Programme, die Toiletten erhöht bauen, damit sie nicht überschwemmt werden. Oder Projekte, die sich der Müllentsorgung widmen.
In Bastuhara werden unter anderem Plastik und PET-Flaschen eingesammelt und zur städtischen Deponie gebracht. Zusätzlich vermittelt extra geschultes Personal Wissen rund um die Hygiene, zeigt den Kindern, wie sie die Hände waschen oder desinfizieren sollten. Qausar Hossain vom Unicef-Büro erläutert: «Wenn sich das Verhalten der Bevölkerung ändert, stärkt sich auch deren Gesundheit.»
Davon, dereinst Ärztin zu werden, träumt Khadiza Akter Farhana, 14. Sie lebt mit ihrer Schwester und den Eltern im Slum Rupsha Ghat, der nach dem nahe gelegenen Fluss benannt ist.
Khadiza Akter Farhana, 14, aus dem Slum Rupsha Ghat: «Ursprünglich stammt meine Familie aus Koyra. Der Ort liegt drei Stunden von hier entfernt. Meine kleine Schwester und ich, wir waren nie dort. Aus Erzählungen meiner Eltern und der Grossmutter weiss ich aber, dass ein Wirbelsturm über das Gebiet fegte und das Meer aufs Land trieb. Der Zyklon Aila nahm ihnen alles, was sie besassen: das Haus, die Felder mit Getreide und Gemüse, die Tiere. Das Wasser stieg innert kürzester Zeit bis zum Balkon und schliesslich darüber hinaus. Grossmutter sagt, es sei ihnen wortwörtlich bis zum Hals gestanden. Sie suchten ein Schulhaus auf, wo die Regierung eine Notunterkunft eingerichtet hatte. Zwei Tage später machten sie sich auf in Richtung Khulna-Stadt. Meine Mutter war mit mir schwanger.
Gemeinsam mit meinem Vater und Verwandten ging sie auf ein Boot, das sie auf dem Fluss Rupsha hierherbrachte. Mama sagt, sie hätten bloss wenige Sachen mitgenommen und vieles zurückgelassen. Sie hätten von Grund auf neu anfangen müssen.
»Seit ich in der Pubertät bin, sorgt sich meine Mutter um mich. Sie befürchtet, die Jungs könnten mir auflauern.«
Nun wohnen meine Eltern und wir Mädchen mit Tante, Onkel und Grossmutter in der gleichen Strasse. Mit unseren Verwandten und zwei weiteren Familien teilen wir uns ein Esszimmer, eine Küche, ein WC und einen Waschraum. Das Wasser, das da aus der Leitung kommt, ist nicht trinkbar. Deshalb geht meine Mutter jeden Morgen früh los, damit sie um sechs Uhr am Brunnen mit sauberem Wasser ist.
Früher war das mal meine Angelegenheit. Doch seit ich in der Pubertät bin, sorgt sich meine Mutter um mich. Sie befürchtet, die Jungs könnten mir auflauern und mich belästigen. Darum darf ich nur raus für die Schule. Ansonsten bleibe ich bei meiner Schwester und spiele mit ihr oder helfe im Haushalt.
Ich gehorche meinen Eltern. Glücklich bin ich dabei nicht. Die Buben haben so viele Freiheiten. Für den Unterricht und die Hausaufgaben interessieren sie sich kaum. Ich hingegen vertiefe mich darin. Ich will lernen, weil ich einen Traum habe: Ärztin werden, kranke Menschen behandeln und eine andere Welt sehen.»
Hier sind Überschwemmungen seltener, und die meisten Menschen haben eine Leitung im Haus. «Trinken dürfen wir daraus jedoch nicht. Das Wasser ist dreckig», erklärt das Mädchen. «Für sauberes Wasser muss meine Mama jeden Tag fast zehn Kilo schwere Krüge Hunderte Meter weit schleppen.» Und Geld bezahlen, das ohnehin knapp ist.
Khadizas Vater verdient als Taglöhner nicht sonderlich gut, das Kleidergeschäft der Mutter läuft mehr schlecht als recht. Früher, das habe ihr die Grossmutter berichtet, hätten sie es besser gehabt. «Doch 2009, im Jahr, in dem ich geboren wurde, zerstörte der Zyklon Aila alles, was wir besassen.»
Tiefe Löhne in der Textilbranche
Solche tropischen Wirbelstürme sind in Bangladesh häufig. Sie toben von März bis April sowie von September bis Oktober. Wegen des Klimawandels hat ihre Zahl zugenommen. Ausserdem sind sie stärker und somit gefährlicher geworden.
Noch in den Siebzigern gab es ungefähr alle fünf Jahre einen Zyklon von katastrophalem Ausmass, heute in jeder Saison. Geschätzt 8,3 Millionen Menschen in Bangladesh sind in Hochrisikogebieten ansässig. Über eine Million haben ihre Heimat bereits verloren. Etwa 30 Prozent von ihnen wegen eines Zyklons. Die übrigen 70 Prozent sind vor Flusserosionen geflüchtet.
Wie die Familie von Jerin Akter Lamia, 14. Sie stammt ursprünglich aus Barishal, wo der Meghna über die Ufer getreten ist. «Der Fluss schwoll Stück für Stück an, liess unser Land langsam verschwinden», erzählt Jerin die Geschichte ihrer Familie. 2005 siedelten ihre Eltern nach Dhaka um. Die Mutter wurde Haushaltshilfe, der Vater in einer Kleiderfabrik engagiert.
Bangladesh ist einer der grössten Textilexporteure, die Branche eine der Haupteinnahmequellen. Die Löhne sind jedoch tief. «Meine Eltern wurden 2020 während des Corona-Lockdowns arbeitslos.» Wieder zogen sie um, was eine grosse finanzielle Belastung war. Dieses Mal in die Slums von Khulna, in das Haus einer Verwandten. «Es ist winzig. Meine Eltern haben ein Zimmer, ich klettere auf einer Leiter zum Dachstock darüber zu meinem Schlafplatz. Die Küche, den Waschraum und das Klo teilen wir mit anderen.» Immerhin hätten sie in Rupsha Ghat eine Bleibe und die Erwachsenen wieder einen Job.
Die Mutter erneut im Haushalt, der Vater führt einen kleinen Shop mit Kosmetika. Die Miete dafür kostet 3000 Taka, über 20 Franken. Der Verdienst der Eltern beläuft sich monatlich auf 10'000 Taka. «Was reinkommt, geht gleich wieder raus – auch für meinen Nachhilfeunterricht. Meine Mama möchte, dass ich es einmal schöner habe als sie und aus diesem Quartier rauskomme», sagt Jerin.
Ob in Rupsha Ghat oder einem anderen Slum: Überall hoffen Buben, Mädchen, Männer und Frauen auf eine bessere Zukunft.
In Bastuhara, dem Ort der Menschen, die ihre Heimat verloren haben, sitzt der ehemalige Bauer Nur Ahmed Sheik auf seinem Bett. Die Schlafplätze seiner Kinder und Enkel sind nur durch dünne Wände oder ein Regal abgetrennt. Rauch aus der Küche brennt in Augen und Lungen. Hinter einem Vorhang ist ein Klo in den Boden eingelassen, es führt direkt in den Fluss.
Sobald es regnet, dringt dessen Wasser ins Haus. Nur Ahmed Sheiks Möbel stehen auf Ziegelsteinen, damit sie wenigstens von unten nicht nass und dreckig werden.
Der Mann sieht sich um und sagt: «Ich habe Heimweh.» Früher hätten sie wenig gehabt, aber das Einkommen sei sicher gewesen. Mittlerweile verkauft er auf einer Fussmatte Gemüse. «Mit dem kleinen Erlös daraus sind mir grosse Träume nicht erlaubt.» Hätte er allerdings einen Wunsch frei, würde er seine Hütte renovieren. Nicht für sich – sondern in erster Linie für die Kinder.
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