Den Rotmilanen fehlt das FutterRekordverdächtig viele Jungvögel in der Zürcher Greifvogelstation
In Berg am Irchel werden doppelt so viele Greifvögel wie üblich gepflegt. Ein grosser Teil davon sind junge Rotmilane. Der Stationsleiter hat eine These, weshalb das so ist.
In der Greifvogelstation Berg am Irchel werden in diesen Tagen unüblich viele pflegebedürftige Vögel eingeliefert. «Bei uns sind derzeit über neunzig Greifvögel und Eulen untergebracht», sagt Andi Lischke, der die Greifvogelstation seit 2010 leitet. In normalen Jahren seien es zu der Jahreszeit jeweils vierzig bis fünfzig.
Dass die Station in den Monaten Juni bis August eine Zunahme verzeichnet, ist nicht aussergewöhnlich. Dann müssen die Eltern nicht nur Futter für sich auftreiben, sondern auch noch ihre Jungen mit Insekten und kleinen Säugern versorgen. Es braucht also viel mehr Nahrung, die aber je nach Witterung knapp wird. Etwa bei grosser Hitze und langer Trockenheit, wie es bei uns im Juni der Fall war. Dann wagt sich keine Maus aus dem Gang, und die Regenwürmer verkriechen sich noch tiefer.
Gewitter und Stürme
Das ist aber nur ein Faktor, der dieses Jahr zu dem rekordverdächtigen Anstieg von gefiederten Pflegefällen führte. Lischke sagt: «Dazu kommen häufige Gewitter und Stürme, welche vor allem die Jungvögel schwächen – oder gar aus dem Nest stürzen lassen.»
Ein anderer Umstand ist für ihn aber erstaunlicher: «Uns werden am laufenden Band geschwächte oder kranke junge Rotmilane gebracht.» In anderen Jahren seien meist die jungen Turmfalken in der Überzahl. Das sei heuer nicht der Fall.
Auch junge Eulen müssten eher weniger gepflegt werden als normal. Letztere passen ihr Brutverhalten dem Nahrungsangebot an. Die Kurzformel lautet: wenig Mäuse, wenig Nachwuchs.
Wie erklärt sich Lischke die Häufung bei den pflegebedürftigen jungen Rotmilanen? Er hat eine erstaunliche These: «In gewissem Sinn handelt es sich um eine gesunde Regulierung des Bestandes.» Denn in der Schweiz habe diese Art in den letzten Jahren unnatürlich stark zugenommen. Unnatürlich?
Rotmilan-Schwarm überm Dorf
Laut dem Greifvogel-Experten ist es an vielen Orten üblich geworden, diese imposanten Greifvögel anzufüttern. Das habe insbesondere in den Corona-Jahren zugenommen, als die Menschen zu Hause blieben und vermehrt in der Natur unterwegs waren.
Dieses Anfüttern ist für Lischke mit ein Grund, weshalb der Bestand der Rotmilane in der Schweiz untypisch stark gewachsen sei. Die Vögel hätten sich an die Nähe der Menschen gewöhnt und im Winter wie im Sommer ausreichend Nahrung vorgefunden. «Deshalb sieht man sie auch zuweilen schwarmweise über Dörfern, wo sie sogar begonnen haben, Würstchen vom Grill weg zu krallen.»
Neues Jagdgesetz verbietet das Füttern
Diese neue Futterquelle versiege aber nun zusehends, stellt Lischke fest: «Zum einen fliegen die Menschen im Sommer wieder in die Ferien, zum anderen verbietet das neue Jagdgesetz im Kanton Zürich, Greifvögel zu füttern.» Das neue Gesetz trat Anfang Jahr in Kraft.
Die Begründung: Das Füttern könne zur Übertragung von Krankheiten und zu unnatürlichen Veränderungen des Sozialverhaltens der Tiere führen. Vom Verbot nicht betroffen sind Futterhäuschen für Singvögel, doch ist auch das Füttern von Tauben nicht mehr erlaubt. Wer gegen das Verbot verstösst, muss mit 200 Franken Busse rechnen.
Schweiz ist Rotmilan-Land
Diese nun möglicherweise einsetzende Bestandesregulierung bei den Rotmilanen hat laut Andi Lischke zwei Seiten: Zum einen sei es oft nicht nötig, Wildtiere zu füttern. Zum anderen aber trage die Schweiz eine grosse Verantwortung für den Bestand dieser Art, die nur in Mitteleuropa vorkommt und in vielen Ländern stark unter Druck steht. «Zehn Prozent des Weltbestandes brüten in der Schweiz.»
Die Schweiz ist heute Europas Rotmilan-Land, was die Frage nach der Regulierung kompliziert. Soll man die Überpopulation fördern oder eher zu vermeiden versuchen? Eine schwierige Frage, die aber auf einer anderen Flughöhe beantwortet werden muss als vom Leiter der Greifvogelstation in Berg am Irchel.
Die Chance der Jungvögel
Deren Aufgabe ist es, die jungen Milane wieder aufzupäppeln. «Wir geraten allerdings allmählich an unsere Grenzen, was den Platz und das Personal betrifft», gibt Andi Lischke zu bedenken.
Wie gross schätzt er die Überlebenschancen der von ihm und seinem Team gepflegten Jungvögel ein? Er sagt: «Wenn sie nicht verletzt oder nicht zu geschwächt ankommen, stehen die Chancen sehr gut, dass wir sie durchbringen.»
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