Interview zu Rassismus an Schulen«Mit zwei Lektionen über Antisemitismus ist es nicht getan»
Es brauche neue Ansätze, um mit Kindern über Rassismus zu reden, sagt die Zürcher Geschichtsdozentin Sabina Brändli. Etwa Schulbesuche von Juden und Muslimen.
Frau Brändli, Sie sind Dozentin für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Zürich und haben Richtlinien zum Umgang mit Antisemitismus und Islamophobie für Lehrpersonen verfasst. Gelangen seit dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober öfter Lehrpersonen mit Fragen an Sie?
In der Tat kontaktieren mich Studierende und Lehrpersonen häufiger mit Fragen in Bezug auf Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Das ist aber auch im Zusammenhang mit anderen kriegerischen Auseinandersetzungen so.
Welche Schwierigkeiten schildern Ihnen Lehrpersonen?
Die ganze Bandbreite von geteilten Social-Media-Beiträgen und Propaganda, beleidigenden oder entwürdigenden Sprüchen bis hin zu Ausgrenzung und tätlichen Übergriffen. Oft geht es darum, dass Kinder von anderen gedrängt werden, Ansichten zu vertreten und Parolen in den sozialen Medien zu teilen, die sie in einen Gewissenskonflikt bringen – etwa weil sie Verwandte in Israel haben, die dort im Militär sind. Für das betroffene Kind fühlt sich das wie Verrat an. Das kann verheerende Auswirkungen haben.
Stehen Kinder auch unter Rechtfertigungsdruck?
Ja, Kinder und Jugendliche machen ihre Gspänli aufgrund ihrer Religion verantwortlich für die Handlungen einer Kriegspartei oder einer Terrorgruppe. Das ist grotesk, aber leider Alltag.
Was raten Sie einer Lehrperson in so einer Situation?
Das Wichtigste ist zunächst, dass die Lehrperson dafür sorgt, dass die Schule ein «Safe Space» bleibt. Dass niemand gemobbt wird, niemand geschlagen, dass die Menschenrechte eines jeden gewahrt werden. Vielleicht ist das Zusammenleben damit noch nicht friedlich, aber immerhin befriedet. Das Zweite ist, pädagogisch angemessen zu reagieren. Dabei gilt es, zu spüren, ob hinter Beleidigungen oder Parolen reine Provokation steckt oder ob sich da schon eine gefestigte Ideologie abzeichnet. Oft stellt sich die Frage, ob ein Kind überhaupt weiss, wovon es redet, und wie man ihm klarmacht, welche Ungeheuerlichkeit es von sich gibt. Und drittens geht es immer auch um eine Botschaft an die Klasse. Die Schülerinnen und Schüler müssen lernen, dass solche Übergriffe auch die ganze Gemeinschaft betreffen.
Am Anfang stehen oft Vorurteile. Wie kann man die verhindern?
Zum Beispiel, indem man mit der ganzen Klasse darüber nachdenkt, was eigentlich Vorurteile sind. Wenn Kinder verstehen wollen, welche verheerende Dynamik solche Stereotype entwickeln können, dann ist viel gewonnen. Sie sollen realisieren, dass alle Opfer von Vorurteilen werden können, auch sie selbst, und dass das alle betrifft.
Kommen wir auf die Radikalisierung zu reden. Vom Zürcher Messerstecher ist bekannt, dass er sich immer mehr zurückgezogen hat, während er immer mehr in den Bann des IS geriet. Wie kann eine Lehrperson so etwas erkennen?
Die Frage hat sich schon bei den Winterthurer Geschwistern gestellt, die nach Syrien zogen. Das hat viele Lehrpersonen alarmiert, und sie haben unseren Rat gesucht. Aber so etwas wie «Fünf Punkte, an denen Sie eine Radikalisierung erkennen» gibt es nicht. Zentral ist eine gute Beziehung zu den Kindern, damit eine Lehrperson erkennt, wenn sich eines zurückzieht und in virtuelle Welten abtaucht. Das ist alarmierend und muss genau beobachtet werden. Auch um zu erkennen, wann es nötig ist, weitere Fachleute ins Boot zu holen. Zentral ist, dass die Beziehung zum Kind nicht abbricht.
Sind die Schulen genug sensibilisiert?
Ja, das sind sie. Das Problem sind die guten Lösungen. Man kann nicht einfach zwei Lektionen über Antisemitismus machen und glauben, damit sei es getan. Der politische Druck wird sicher dazu führen, dass einiges neu gedacht wird. Der aktuelle Konflikt offenbart, wie sich Antisemitismus und Islamophobie gegenseitig verstärken und verkeilen. Das erfordert andere Ansätze für die Prävention.
Was schwebt Ihnen vor?
Wichtig ist einerseits, zu verstehen, welche mörderische Dynamik Feindbilder in Gang setzen können. Das andere sind direkte Begegnungen mit Menschen, über deren Kultur oder Religion Vorurteile kursieren. Es gibt ja schon seit vielen Jahren das Projekt «Likrat», bei dem Jüdinnen und Juden in die Schulklassen gehen. Nun gibt es ein neues Projekt mit Tandems aus muslimischen und jüdischen Jugendlichen oder Erwachsenen. Sie gehen gemeinsam in Klassen und zeigen, dass sie gemeinsam betroffen sind. Das ist ein Beispiel, das mir Hoffnung gibt.
Wie wichtig ist das historische Verständnis? Man hört immer wieder, der Holocaust werde an Schulen zu wenig thematisiert.
Der Holocaust hat eine ganz wichtige Stellung im Geschichtsunterricht. Allerdings ist die Zahl der Lektionen in Geschichte stark gesunken, und es steht nicht so viel Zeit zur Verfügung, wie nötig wäre. Wir bieten an der PH Zürich deshalb immer wieder Veranstaltungen dazu an, wie man den Holocaust mit speziellen Formaten wie Projekttagen und Museumsbesuchen thematisieren kann. Und da sehe ich ein grosses Engagement.
Wie viel Leid und Gewalt kann man Kindern zumuten, damit sie verstehen, was Krieg heisst? Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt gab es auch besorgte Stimmen von Eltern, die befürchteten, ihre Kinder könnten verstört reagieren.
Das hängt sehr vom Alter ab. Der Geschichtsunterricht, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, setzt auf der Sekundarstufe an. Aber man kann Primarschulkinder nicht davor bewahren, dass sie mitbekommen, dass Krieg ist. Schwappt ein Konflikt, eine Aktualität ins Schulzimmer, muss die Lehrperson immer wieder entscheiden: Reden wir nur darüber, was das in den Kindern auslöst, oder auch über die Bilder, die sie sehen? Unabhängig von der Schulstufe gilt ein Indoktrinationsverbot: Schülerinnen und Schüler sollen nicht in eine Richtung gedrängt oder gar schockiert werden, sondern das Material bekommen, das sie brauchen, um mitdiskutieren zu können.
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