Zürcher Start-up ValerianaPutzjobs für Eingewanderte – Sprungbrett oder Sackgasse?
Ein Social-Impact-Projekt will die Integration von zugewanderten Frauen durch Arbeit fördern.
Stolz zeigt Maryan Rooble ihren Rucksack. «Valeriana» steht drauf. Darin trägt sie alle nötigen Lappen und Putzmittel mit, wenn sie zur Arbeit geht. An diesem Abend ist sie ins Valeriana-Büro gekommen, um die ökologischen Mittel wieder nachzufüllen – Konzentrat, um Gewicht zu sparen.
«Ich bin glücklich, dass ich endlich Arbeit gefunden habe und eigenes Geld verdiene», sagt die junge Frau aus Somalia. Sie ist im Jahr 2009 als 16-Jährige aus ihrem Heimatland in die Schweiz geflüchtet, mutterseelenallein. Sie konnte weder lesen noch schreiben und kein Wort Deutsch. Seither ist sie von der Sozialhilfe abhängig. Eine Arbeitsstelle mit einem richtigen Vertrag hatte sie bislang nie.
Das ist jetzt anders. Seit zwei Monaten putzt sie bei Valeriana – in einem nicht ganz gewöhnlichen Projekt. Dessen Ziel ist es, Migrantinnen durch Arbeit in der hiesigen Gesellschaft zu integrieren, sie auszubilden und so zu «empowern, dass sie sich selber helfen können. Als eine Art Sprungbrett», wie Salomé Fässler (35) sagt.
«Wir sind etwas zwischen Mutter Theresa und Bill Gates.»
Die gebürtige Appenzellerin hat das soziale Non-Profit-Projekt in Zürich zusammen mit ihrem Ehemann Bora Polat Ende 2019 ins Leben gerufen. Die beiden sehen sich als «Social Impact Entrepreneurs», als Unternehmer, die mit innovativen Projekten zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen wollen.
«Wir sind etwas zwischen Mutter Theresa und Bill Gates», sagt Fässler. «Wir tun Gutes und animieren so unsere Kundinnen, auch Gutes zu tun, indem sie eine Valeriana-Reinigungskraft buchen – das gibt eine Aufwärtsspirale», ergänzt Polat.
Die Räumlichkeiten des Social-Impact-Start-ups in Zürich-Wipkingen sind bescheiden. Eine 3-Zimmer-Altbauwohnung mit einem «Schulzimmer» und zwei Büros für die fünf Mitarbeitenden.
Das oberste Ziel sei es, «Touchpoints» zu schaffen, erklärt der fast Vierziger Polat. Heisst, die hiesige Bevölkerung mit den eingewanderten, oft isolierten Frauen in Kontakt zu bringen: «So bringen wir die Gesellschaft letztlich näher zusammen.»
Zu einem Job dank Deutschkursen
Dabei knüpfen die beiden bei den Fähigkeiten an, die die Frauen aus Eritrea, Somalia, Lateinamerika oder der Ukraine mitbringen. Angeboten werden neben Putzarbeit auch Bügeln, Feriendienste wie Briefkastenleeren oder Haustierehüten, sieben Services insgesamt.
Damit die Frauen sich bei Valeriana weiterentwickeln, werden an der Dammstrasse auch zertifizierte Deutschkurse angeboten. Oft sei die Sprache der Hauptgrund, weshalb viele keine Arbeit fänden, weiss Fässler. Diese Kurse würden rege genutzt und seien für die Mitarbeitenden auch zu einem sozialen Treffpunkt geworden.
Auch ins Putzen und Bügeln werden die Frauen eingeführt und in Workshops von einer Fachfrau gezielt nach hiesigen Ansprüchen geschult. Wie Maryan Rooble. Sie erzählt: «Nach einer Onlinebewerbung über die Valeriana-Plattform wurde ich zu einem Gespräch eingeladen. Danach musste ich zweimal bei Kunden Probe putzen, bevor ich allein gehen konnte.»
Dabei wurde sie von einer Expertin unterwiesen, was der Reihe nach wie geputzt werden muss. Sie kramt im Rucksack, zieht Reinigungstücher hervor: «Wir haben auch vier verschieden farbige Putzlappen. Jede Farbe ist für einen anderen Anwendungsbereich. Hygiene ist wichtig», sagt Rooble. Unterstützt wird sie auch von einem Valeriana-Handbuch und How-to-do-Videos. Sie lacht: «Aber ich kann schon alles auswendig.»
Viele Details bei Valeriana sind durchdacht. Eine Schlüsselrolle spielt auch die Technologie. «Vieles läuft bei uns digital», sagt Bora Polat, gelernter Polymechaniker mit Start-up-Erfahrung. Zentral ist die eigens von zwei Basler Programmierern entwickelte App. Sie verbindet die Angestellten, Kundinnen und das Backoffice. Sie hilft, die Personalkosten tief zu halten, indem vom Auftragseingang über die Vermittlung bis zur Verrechnung alles automatisch abläuft.
Die App sei super, bestätigt Maryan Rooble. Sie sehe auf ihrem Handy sofort, wo eine Kundin wohne und wie sie dort hinkomme, und erhalte automatisch Auftragsangebote, die ihr zeitlich passten. «Hier zu arbeiten, ist schön, weil ich entscheiden kann, wann ich putze», sagt sie. Bei anderen Anbietern müsse man arbeiten, wenn man aufgeboten werde – eine Unmöglichkeit für die Mutter von vier kleinen Kindern.
«So, wie wirs machen, sind wir eher zu günstig.»
Diese Sackgasse kennt Bora Polat als Sohn einer eingewanderten Kurdin aus eigener Erfahrung. Nach dem Auszug der Kinder fühlte sich seine Mutter immer isolierter, was ihn auf die Idee brachte, ihre Nähkünste auf einer Website anzubieten. Das lief so gut, dass daraus Valeriana entstand. Inzwischen zählt es mehr als 500 Kundinnen, gegen 300 Haushaltshilfen wurden bisher angestellt, und rund 100 warten auf ihren ersten Einsatz.
Günstig ist eine Valeriana-Dienstleistung indes nicht: Wer eine Reinigungskraft bucht, zahlt 42 Franken in der Stunde. Konventionelle Reinigungsservices sind meist günstiger. Warum so teuer? «So, wie wirs machen, sind wir eher zu günstig. 34 Franken, also 80 Prozent, gehen direkt an die Frauen, inklusive Sozialleistungen. Aus dem Rest finanzieren wir Workshops und Weiterbildungen. Nur 8 Prozent gehen für den administrativen Aufwand an Valeriana», sagt Bora Polat.
Bislang finanzieren die beiden das Projekt aus eigener Tasche – ein sechsstelliger Betrag. Derzeit sind sie aber auf der Suche nach Geldgebern: Stiftungen, Banken und «Impact-Investoren». Die Einstellung müsse stimmen, sagen sie. Nein, bessere Menschen seien sie nicht. Aber sie hätten das Potenzial dieser Frauen für Wirtschaft und Gesellschaft erkannt und gehandelt.
Kritische Wissenschaft
Und was sagt die Fachwelt dazu? Gianni Damato, Migrationsforscher an der Universität Neuenburg, hat nichts auszusetzen, «falls die Betreiber den Rest in Weiterbildung investieren und dies effektiv erfolgt». Es bleibe wichtig, nicht nur für Hochqualifizierte Jobs anzubieten: «Auch wenn diese Jobs natürlich Sackgassen sind und keine Entwicklung ermöglichen. Ausser eben, es kommt zu Weiterbildungen.»
Kritischer urteilt Sabine Strasser, Sozialanthropologin an der Universität Bern: «Ich will keine Spielverderberin sein, aber es gibt hoffentlich bessere Ideen für Start-ups, als Frauen im Namen der Integration als Haushaltshilfen zu vermitteln», sagt sie. Statt eine gute Tat sieht sie hier geschicktes Marketing. «Das beruhigt gleich das schlechte Gewissen der zahlenden Kundinnen, die ungeliebte Hausarbeit nicht in den Familien aushandeln, sondern an andere Frauen auslagern.»
Die faire Bezahlung dafür sieht sie als eine Selbstverständlichkeit, auf die man nicht wirklich stolz sein könne. Statt von Sprungbrett redet sie von «Endstation Putzfrau» für viele qualifizierte Frauen, deren Ausbildungen in der Schweiz nicht anerkannt würden.
Weiter komme es durch die angebotenen Workshops und Deutschkurse zu einer Privatisierung von Integrationskosten. Was das Gründerpaar als Integration beschreibt, nennt sie «Passfähigkeit»: «Valeriana verweist die zugewanderten Frauen am Arbeitsmarkt dorthin, wo sie unserer Gesellschaft anscheinend am besten passen, auf die Stufe ganz unten.»
Das Paar hält dagegen, dass die Aussage «ganz unten» klar zeige, «dass die Care-Arbeit immer noch nicht den Stellenwert in der Gesellschaft besitzt, der ihr zusteht». Zudem richte sich die Initiative nicht an gut ausgebildete Frauen, die meist alle kantonalen Integrationsprogramme durchgemacht hätten und trotzdem vom Sozialamt abhängig seien. «Und irgendwo muss man anfangen. Ansonsten bleibt es, wie es ist, wenn man nur darauf wartet, dass der Staat Lösungen anbietet.»
Ihr Ziel ist es, dass sich Valeriana selber trägt, bereits Mitte 2023 soll es so weit sein. Im vergangenen Jahr seien sie, nach einem Taucher im Corona-Jahr 2020, ums Fünffache gewachsen, gemessen an der Anzahl vermittelter Arbeitsstunden, Stellen und am – nicht genannten – Umsatz.
Auch Maryan Rooble hat ein Ziel. Sie will künftig noch mehr arbeiten, damit sie auf eigenen Beinen stehen kann und ihre Familie keine Sozialhilfe mehr beziehen muss. Nach zwei Valeriana-Monaten hat sie das bereits zur Hälfte geschafft.
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