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Reportage aus der Ukraine
Putin blockiert Odessa – und erpresst die ganze Welt

Alternativen zum Seetransport hat die Ukraine als Getreideexportnation keine: Ukrainischer Soldat am Strand von Odessa.
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Am «Cuba-Beach» ist die Stimmung bestens. Sonnenschein, 26 Grad. Oxana und Viktoria strecken sich auf ihren Badetüchern aus, sonnen sich, im Wasser waren sie auch schon. «Ja, am Anfang hatten wir schreckliche Angst, wegen der Minen», sagt die 53-jährige Oxana. «Aber die Soldaten haben uns gesagt, an diesem Strandabschnitt sei es ungefährlich. Also haben wir es riskiert.»  

Die Schuhverkäuferin Oxana und die Callcenter-Telefonistin Viktoria sind nicht die einzigen am Strand bei der «Fontäne-13» in Odessa. Es ist Internationaler Kindertag, ein Feiertag in der Ukraine. Pärchen, Solisten, Familien mit kleinen Kindern sind gekommen. Keine hundert Meter entfernt, am Strandstreifen rechts und links vom Cuba-Beach, warnen Schilder: «Achtung Minen, Lebensgefahr». Darunter starrt ein Totenkopf, samt dem Rat: «Achten Sie auf Ihre Angehörigen und Begleiter». Lebensgefahr? Es scheint am Cuba-Beach keinen wirklich zu stören.  

Zu spät für den Sturm

Odessas Hafen und die Küste der ukrainischen Stadt sind seit Kriegsbeginn vermint, an den Hängen rund um die Klippen haben sich Truppen eingegraben, für Zivilisten liegt das Leben am Meer – abgesehen von einigen wenigen Orten wie dem Cuba-Beach – still. Selbst die Potemkinsche Treppe, die von der historischen Innenstadt zum Hafen hinunterführt und die Kulisse abgab für Sergej Eisensteins berühmten Revolutionsfilm «Panzerkreuzer Potemkin», ist für das Publikum gesperrt.  

Lange hatte die ukrainische Regierung befürchtet, dass die russische Flotte eine Landungsoperation an der Schwarzmeerküste versuchen könnte. Aber der maritime Grossangriff auf Odessa, die wichtigste Hafenstadt des Landes, blieb aus. «Putin hat die Chance vertan. Er hätte zu Kriegsbeginn angreifen müssen, als er den Überraschungseffekt auf seiner Seite hatte», sagt der ukrainische Militärfachmann Alexander Kovalenko vom Analysedienst «InfoResist». «Jetzt stecken seine Truppen im Osten des Landes fest, auch die Luftüberlegenheit fehlt ihm. Es ist zu spät für den Sturm von der See aus.»  

Nachdem ukrainische Neptun-Raketen Mitte April die Moskwa versenkt haben, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, setzt Russlands Präsident Wladimir Putin auf Blockade. Seine Marine hat die Gewässer vor der Küste weiträumig vermint, Kriegsschiffe ausserhalb der Reichweite ukrainischer Raketen überwachen die Seesperre: Kein Schiff, kein Frachter, nicht einmal ein Fischerboot kann den Hafen von Odessa verlassen.  

«Das ist die Chance, auf die Putin wartet. Er lügt. Ich glaube ihm kein Wort.» 

Hennadij Truchanow, Odessas Bürgermeister

Putin hat mit der Blockade den Seeexport ukrainischen Getreides abgewürgt und provozierte gezielt eine weltweite Krise, samt Hungersnöten in den ärmeren Staaten im globalen Süden. Der Kreml-Chef mag im Ukraine-Krieg wenige echte militärische Erfolge vorweisen können. Aber mit der Blockade von Odessa und den anderen ukrainischen Häfen kann er die halbe Welt erpressen. Die Ukraine ist der weltweit zweitgrösste Exporteur von Weizen, der grösste Produzent von Sonnenblumenöl dazu. In den überquellenden Silos des Landes lagern inzwischen mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide, die nicht exportiert werden können, weltweit steigen bereits die Preise.  

Schaukel und Panzersperren: Am Strand von Lusaniwka herrscht Kriegs- statt Ferienstimmung.

Aus seinem eigentlichen Kalkül macht Putin keinen Hehl. Der Kreml-Chef bietet an, seine Seeblockade aufzuheben, wenn im Gegenzug einige der internationalen Sanktionen gegen Moskau fallen. Dann könne, so Putin, die ukrainische Regierung den Hafen von Odessa entminen und die Frachter auslaufen lassen. Es ist Politik in Mafia-Manier: ein Ende der Sanktionen statt Hungersnöten im Jemen, in Äthiopien, Ägypten, Tunesien. Die britische Aussenministerin Liz Truss sagt dazu: «Das dürfen wir nicht zulassen. Putin muss die Blockade aufheben.»  

Nun warnen die USA gemäss «New York Times» davor, dass der Kreml von den hohen Getreidepreisen zu profitieren versucht, indem er in der Ukraine gestohlenen Weizen an von Dürre betroffene Länder in Afrika verkauft, von denen einige von einer Hungersnot bedroht sind.

Die ukrainische Regierung sieht sich in ihren Vorwürfen bestärkt, Russland habe seit der russischen Invasion im Februar bis zu 500’000 Tonnen ukrainischen Weizens im Wert von 100 Millionen Dollar gestohlen. Ein Grossteil davon wurde mit Lastwagen zu Häfen auf der von Russland kontrollierten Krim gebracht und dann auf Schiffe umgeladen, von denen einige westlichen Sanktionen unterliegen, so ukrainische Beamte.

Alternativen zum eigenen Seetransport hat die Ukraine als eine der weltweit wichtigsten Getreideexportnationen keine. Millionen Tonnen Korn mit Lastwagen oder Güterzügen zu exportieren und zum Weitertransport in Häfen anderer Staaten zu schaffen, dauert viel zu lange, ist viel zu teuer, scheitert an der fehlenden Infrastruktur auf Schiene und Strasse. Das macht Putins Angebot  – Seeblockade gegen Aufhebung internationaler Sanktionen – so verlockend.  

Odessas Bürgermeister Hennadij Truchanow warnt vor einem solchen Kuhhandel. «Den Minengürtel vor unserem Hafen entfernen, um mit Moskaus Goodwill zu exportieren? Odessa wäre ungeschützt», sagt der Ex-Artillerieoffizier. Er wittert eine Falle: «Das ist die Chance, auf die Putin wartet. Er lügt. Ich glaube ihm kein Wort.» 

Der Bürgermeister ist nicht der einzige, der jeden Deal ablehnt und Härte propagiert. James Stavridis, ehemals Nato-Oberbefehlshaber für Europa, nennt das Schwarze Meer bereits die «zweite Front im Ukraine-Krieg». Stavridis fordert, die Blockade militärisch zu brechen. Der frühere US-Admiral schlägt vor, dass die Nato mit Flottenpräsenz und Geleitzügen die Freiheit der Handelsschifffahrt im Schwarzen Meer sicherstellen soll. Weite Teile des Meeres seien internationale Gewässer: «Es macht keinen Sinn, dieses Meer den Russen zu überlassen.»  

Die Stadt ist verbarrikadiert: Ukrainische Soldatin im Zentrum Odessas. 

Der ukrainische Militärexperte Kovalenko gibt zu bedenken, dass es viel Zeit koste, egal, ob man die Blockade nun militärisch brechen oder Absprachen mit Moskau treffen wolle. Die Ukraine habe die Strände und die küstennahen Gewässer vermint, Moskau weiter draussen auf See 500 bis 600 Seeminen zu Wasser gebracht. Wobei Moskau dies bestreitet und behauptet, auch die meisten dieser Seeminen seien von der Ukraine ausgelegt worden. Da es sich um alte sowjetische Munition handelt, die von beiden Seiten verwendet wird, lässt sich dies nach Meinung von Experten schwer klären. Es würde aber der Einschätzung des Militäranalytikers Kovalenko zufolge gut ein Jahr dauern, diese Minen – auch er nennt sie russisch – zu räumen.  

«Nur vor Odessa einen schmalen Korridor freizuschlagen», so Kovalenko, «dauert schon einen Monat.» Und die Ukraine hat kaum eigene Minensuchboote, sie wäre in jedem Fall auf die Hilfe anderer Staaten angewiesen. Doch die Zahl ausländischer Kriegsschiffe, die sich in dem Binnenmeer aufhalten dürfen, ist begrenzt.

Die Türkei als Herrscher über die Wasserstrassen von Bosporus und Dardanellen kontrolliert die Zufahrt ins Schwarze Meer. Der «Vertrag von Montreux» begrenzt Zahl, Grösse und Aufenthaltsdauer von Kriegsschiffen, die nicht zu den Flotten der Anrainerstaaten gehören. Das macht jeden internationalen Einsatz schwierig – seien es Konvois oder die Entminung.  

Putins Vorschlag an Erdogan

Die Türkei, selbst eine Schwarzmeer-Macht, ist sich ihrer starken Position bewusst. Sie will nun im Ringen um Getreideexporte selbst vermitteln. Der russische Aussenminister Sergei Lawrow werde am Mittwoch Gespräche in Ankara führen, um über die Möglichkeiten eines Korridors für das Getreide zu sprechen, so Ankara. Putin habe Präsident Recep Tayyip Erdogan vorgeschlagen, den Export des blockierten Getreides in Koordination mit der Türkei zu ermöglichen. 

Gemäss einem russischen Medienbericht vom Montag habe die russische Führung mit Kiew und Ankara ein Schema zur Freigabe von Getreidelieferungen aus dem bisher blockierten Schwarzmeerhafen Odessa abgestimmt. «In den Hoheitsgewässern des Nachbarlands übernehmen türkische Militärs die Minenräumung und sie werden auch die Schiffe bis in neutrale Gewässer begleiten», beschrieb die kremlnahe Tageszeitung «Iswestija» unter Berufung auf Regierungskreise den geplanten Ablauf. Später würden russische Kriegsschiffe die Getreidefrachter bis zum Bosporus eskortieren.

Odessas Bürgermeister Truchanow hält all das für eine schlechte Idee. «Die Türken lassen russische Frachter mit geplündertem und gestohlenem ukrainischen Getreide jetzt schon ungehindert durch den Bosporus ins Mittelmeer fahren. Und nun soll ausgerechnet die Türkei für unsere Sicherheit bürgen?» Der Bürgermeister setzt auf die Entschlossenheit der Partner seines Landes. «Die wichtigen Staaten der Welt haben doch genug Flottenmacht. Wollen sie eine weltweite Hungerskatastrophe riskieren, damit Putin am Ende seinen Willen bekommt?»