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Postkarten-Wanderung im Tessin
Der steile Pfad zu den königlichen Buchen

Carolione bei Castel im Valle di Lodano

Dieser Artikel stammt aus der Schweizer Familie

Die Kälte des Morgens liegt in den Gassen von Lodano, und aus dem Kamin mancher Steinhäuser steigt Rauch. Wir gehen über rundes Kopfsteinpflaster, sehen Efeu von Dachrinnen hängen und Farn aus Dorfmauern wachsen. Das Dorf im Maggiatal hat über alle Zeiten seine Ruhe bewahrt.

Wie eh und je rauscht die Maggia in der Ferne, und die Gassen heissen «al Fiümm» oder «i Rünch». Und am Dorfrand zieht sich ein Tal zwischen Waldflanken hoch, so steil, dass kaum jemand es kennt: das Valle di Lodano.

Lodano im Valle di Maggia

Genau wegen dieses Tals sind Fotograf Gaudenz Danuser und ich hier. Denn hier breitet sich einer der schönsten Buchenwälder der Schweiz aus. In seinen Schatten tauchen wir bald ein. Schreiten erst noch im raschelnden Laub durch einen Kastanienhain und steigen wenig später auf einem Waldweg steil bergauf, über Wurzelwerk und raue Steintreppen, vorbei an bemoosten Felsblöcken, über die Wasser rinnt.

Noch liegt die Waldflanke im Schatten, auf der gegenüberliegenden Talseite indes leuchten die Baumkronen als rotgoldene Bausche in der Herbstsonne. So hell, dass die Schatten rund um uns in lila und vanillegelben Reflexionen schimmern.

Majestäten von Bäumen

Wir wandern weiter bergauf, bis der Wald sich mit einem Mal öffnet: In einer Lichtung liegt der Weiler Castel mit seinen Steinhäusern, umgeben von Wolken aus Laub, die in Zimt und Zinnober, in Honig und Safran leuchten. Darunter der Rio di Lodano, der durch einen Einschnitt sprudelt und in türkisfarbenen Becken verweilt. Im Herbst ist es heute still hier. Einst aber lebten und arbeiteten im Valle di Lodano Holzfäller, Köhler, Älpler.

Um ihre Geschichte zu erfahren, trafen wir tags zuvor auf dem Dorfplatz von Lodano Christian Ferrari, 47.

Christian Ferrari, Valle di Lodano.

Ein Mann aus Lodano mit Bergsportjacke, feiner Brille und freundlichem Lächeln, der einst ausgezogen war, um in Lausanne Physik zu studieren. Dann, nach dem Studium, hatte er die Wahl: doktorieren im französischen Marseille oder unterrichten in der Nähe von Lodano. Er entschied sich für sein Dorf. Nun steht er vor uns, unter dem Arm ein Buch, so dick wie ein Atlas. Ein Buch über das Valle di Lodano. Er lächelt verlegen. Nur ein Büchlein hätte es werden sollen. «Doch wer sucht, der findet.»

Christian Ferrari erzählt uns, was er und andere entdeckt haben: die Geschichte eines Köhlerplatzes etwa, der um 1450 erstmals erwähnt wurde; oder Verankerungen und Kabel, an denen man Buchenstämme talwärts rutschen liess. Dann blättert er im Buch und zeigt uns schwarzweisse Fotografien einheimischer Frauen, die dreissig Kilogramm schwere Kohlensäcke durch den Wald schleppen. Und Farbfotos von Käfern, Moosen und Pilzen. «Siebenhundert Spezies haben Forschende im Valle di Lodano gefunden.»

Nachdem wir den Weiler Castel hinter uns gelassen haben, tauchen wir ein in einen Wald, der an die Urzeit erinnert.

Dann, eines Tages, begleitete ihn ein Experte der Internationalen Union für Naturschutz (IUCN) im Auftrag des Welterbekomitees der Unesco ins Valle di Lodano. Am Ende des Ausflugs war klar, was die Einheimischen bis heute erstaunt: Das Bergtal mit seinen steilen Waldflanken wurde zum Unesco-Weltnaturerbe erklärt. Als Landschaft, die – ​zusammen mit anderen europäischen Buchenwäldern – ​die einstigen Urwälder Europas repräsentiert.

Und in der Tat: Nachdem wir den Weiler Castel hinter uns gelassen haben, tauchen wir ein in einen Wald, der an die Urzeit erinnert. Immer höher über uns breiten sich die Baumkronen aus, immer mächtiger sind die Stämme, an denen wir vorbeiwandern.

Der Stein ist Teil der Buche geworden

Majestäten von Bäumen säumen den Pfad, manche von ihnen sind mehr als 250 Jahre alt. Manchmal sehen wir kaum, wo Wurzelwerk endet und Fels beginnt, so ineinander verschlungen sind Holz und Stein, derweil an Strünken aus Totholz fussballgrosse Holzschwämme wachsen und das Laubdach wie ein Baldachin aus Bernstein leuchtet.

Malerisches Laubdach der Buchen in gelb orange brau grün

Einmal überqueren wir ein trockenes Bachbett und blicken auf das wilde Land um uns herum: Flanken, Kreten, Schultern, Rippen – ​alles von einer Decke aus Wald bedeckt. So sah einstmals ganz Europa aus. Bis die letzte Eiszeit die Wälder schwinden liess. Ausser jene Buchen, die vor 12'000 Jahren noch in Südosteuropa standen, um sich nach der kalten Zeit wieder nordwärts auszubreiten, und vor 7000 Jahren auch das Valle di Lodano erreichten.

7000 Jahre sind eine lange Zeit, denke ich mir. Und dennoch: In diesem Wald scheint sich die Zeit aufzulösen. Gerade so, als wäre die Eiszeit just gestern gewesen. Oder als gäbe es seit Jahrtausenden uns Menschen nicht mehr.

Das Valle die Lodano mit Castel inm Herbstkleid

Als wir höher und höher steigen, werden die Buchenstämme bleich wie Gespenster; immer mehr Licht fällt durch ihre Kronen, und mit einem Mal ragen zwischen den Buchen genauso mächtige Tannen auf, in deren Astwerk Spinnennetze den Tau gefangen haben und nun silbern glänzen. Dann, als wir bereits gut vier Stunden unterwegs sind, gehen wir auf einmal durch Lärchenwald, bevor sich auch dieser lichtet und bald ein Kreuz auf einer Kuppe vor uns auftaucht. Dahinter liegt ganz still: die Steinhütte der Alpe Canaa.

In der Hütte steht alles bereit

Bis in die 1950er-Jahre war Canaa eine Alp, dann zerfielen die Trockenmauern allmählich. Später aber nahmen sich die Bürger von Lodano ihrer an. Wie auf so vielen Tessiner Alpen restaurierten Freiwillige Dach und Mauern der Steinhütte, bauten eine Küche ein, zimmerten Schlafräume. So wurde aus ihr die Capanna Alpe Canaa.

de Wanderweg zur Alp da Canaa

Als wir eintreten, fühlen wir uns wie zu Hause. Alles steht bereit: die Espressomaschine, das Kaffeepulver, saubere Küchentücher, Holz und Streichhölzer neben dem Ofen. «Komm herein», scheint jemand zu sagen, «heute ist dies dein Daheim.»

Den gefundenen Steinpilz gibts zu den Spagetti.

Wir zünden ein Feuer im Ofen an, trinken Gazosa mit Himbeergeschmack und kochen Pasta auf dem Gasherd. Dann setzen wir uns zum Nachtessen nach draussen, wo ein Steinbrunnen plätschert und die Herbstsonne scheint. Bald wird sie hinter den Kreten versinken und den Schatten der Nacht Platz machen, die im Herbst mit Frost über die Höhen ziehen. Was uns nicht stört, denn wir schlafen in der warmen Hütte. Bis die Sonne im Osten wieder über die Gipfel steigt und die Nebel des frühen Morgens ins Tal gesunken sind. So, dass mir scheint, die Bergspitzen rund um uns – und wir selbst mitsamt der Hütte – ​seien der Erde entstiegen.

Über den Wolken, Berghütte Alp da Canaa, Valle di Lodano

Lange könnte ich mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf der Steinbank vor der Hütte sitzen. Über die Gipfel hinwegblicken und den nahenden Winter vergessen. Doch in Lodano erwartet uns ein weiterer Mann, mit dem wir in die Geschichte des Gebiets eintauchen werden, als reisten wir in der Zeit zurück.

Überall historische Schätze

So steigen wir ab. Diesmal nicht durch den Wald, sondern auf einem Weg, der sich der Waldgrenze entlangschlängelt. Durch ockerfarbenes Gras, an Alphütten und einem Seelein vorbei, über Kuppen, von denen man ins Tal blickt, durch das sich weit unten die Maggia schlängelt.

Caroline hoch über dem Valle di Maggia

Erst als der Weg steiler hinabführt, wandern wir wieder durch den Wald. Steigen immer weiter ab unter Birken und Buchen, später durch Haine aus Kastanien, bis wir die Maggia wieder rauschen hören.

Idylle pur in der nähe der Alpe di Pii

Es ist Nachmittag, als wir in Lodano Renato Simona, 76, treffen. Jenen zweiten Kenner der Geschichte, der uns rund um das Dorf und mitten in dessen Vergangenheit führt. Er zeigt uns im nahen Wald eine Mühle, in der man einst Mais mahlte, und im Gestrüpp die alten Mauern einer Wasserfassung, aus der Quellwasser durch Kanäle ins Dorf floss. Und bei einer rostigen Seilwinde erzählt er davon, wie die Holzarbeiter Baumstämme durch das ganze Valle di Lodano talwärts rutschen liessen, um sie dann auf der Maggia talauswärts zu flössen.

Kenner des kulturellen Erbes im Tal: Renato Simona forscht in der Natur und in den Archiven.

Renato Simona erzählt mit Leidenschaft. Vielleicht weil sein ganzes Leben von ­Leidenschaften geprägt war: Als Alpinist stieg er auf Gipfel auf der ganzen Welt, arbeitete erst beim kantonalen Büro für kulturelles Erbe, später beim Archäolo­gischen Dienst. Egal, wovon er spricht – ​seine Augen leuchten. Und so steigt er nun seit mehreren Jahren mit derselben Hingabe des Kantonsarchäologen in die Archive von Lodano. Findet Hinweise auf Wasserkanäle, entdeckt Köhlerplätze, zerfallene Mauern: Und sie alle erzählen jene Geschichte, durch die wir zwei Tage lang gewandert sind.

Ein alter Köhlerplatz zur besichtigung

Nochmals gehen wir im Wald ein Stück bergwärts, bis sich das Astwerk lichtet. Fast ergriffen blickt Renato Simona auf die Nachbardörfer Giumaglio und Coglio, auf die Maggia, die Wälder darüber, die Gipfel, den tiefblauen Herbsthimmel. «È una cartolina, no?», sagt er dann und lächelt . ​«Schön, wie eine Postkarte, nicht?»

Als wir uns wenig später auf dem gepflasterten Dorfplatz in Lodano von Renato Simona verabschieden, haben sich schon Schatten über die Häuser gelegt, und mit ihnen streicht die Kälte durch die Gassen.

In den malerischen Gassen von Lodano

Nur die Baumkronen der Buchen über dem Dorf leuchten noch im Sonnenlicht. Doch bald wird der erste Wintersturm auch ihr Laub davontragen. Dann werden sie dem Winter trotzen, um im kommenden Frühjahr wieder zum Leben zu erwachen. Genauso wie seit Jahrtausenden.