Problemland wie ausgewechseltPlötzlich erlebt Italien sein Wirtschaftswunder
Draghis Reformen, 200 Milliarden Euro EU-Hilfe und Niedrigzinsen geben Italien eine einmalige Chance, sich zu ändern. Für die Jungen ist es der erste Aufschwung in ihrem Leben.
«Leute, jetzt ist Zeit, es zu versuchen». Federico Marchetti, Gründer des einzigen italienischen Start-ups mit Millardenbewertung, kehrte als Gastdozent für ein Semester an seine alte Universität zurück. Achtzig Studentinnen und Studenten der Mailänder Hochschule Bocconi erklärte er das Erfolgsrezept seines Unternehmens Yoox, eines digitalen Luxuskaufhauses.
Der Zeitpunkt fürs Gründen sei günstig, macht der italienische Vorreiter des Onlinehandels in seiner Einführungsvorlesung Mut. Italien habe sich gewandelt, das Klima sei positiv, Kapital vorhanden, der Aufschwung stark, der Ruf des Landes im Ausland viel besser und die Nachfrage für grüne und digitale Firmen riesig. «Heute seid Ihr jungen Leute nicht gezwungen, das Land zu verlassen», sagt der Unternehmer.
Italien, so scheint es, hat Zukunft.
In der Tat, Europas Problemland wirkt wie ausgewechselt. Mario Draghi hat acht Monate nach seinem Amtsantritt die Wirtschaft auf Kurs gebracht, Reformen eingeleitet, die populistischen Parteien gezähmt und dem zermürbten Land Vertrauen zurückgegeben.
Marchetti hat recht: Ein günstigerer Moment ist kaum vorstellbar. Der international geschätzte Draghi an der Regierungsspitze, die Zusage von 200 Milliarden Euro europäischer Aufbauhilfe und ultraniedrige Zinsen geben Italien eine einmalige Chance, sich von Grund auf zu ändern. Aber nutzt das Land sie auch?
Bislang läuft es, so muss man sagen, prächtig. Draghis Mission ist es, Italien nach 25 Jahren Stagnation auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen. Eine florierende Wirtschaft kennt in Italien aus eigener Erfahrung schon eine ganze Generation nicht mehr. Aufschwung? Nie erlebt. Inzwischen verkündet der Premier im Monatstakt, dass die Regierung ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr wieder einmal nach oben gesetzt hat.
Trotz hoher Energiepreise und Lieferengpässen, mit denen die Unternehmen in aller Welt zu kämpfen haben. Ende vergangener Woche, als das Kabinett den römischen Haushaltsentwurf verabschiedete, war Draghi bei «deutlich über sechs Prozent» Wachstum angelangt. Am selben Tag schraubte die deutsche Regierung ihre Wachstumserwartung für das laufende Jahr auf 2,6 Prozent herunter. Verkehrte Welt.
Die Begeisterung über die ungewohnte Dynamik versetzt Italien in Hochstimmung. Draghi warnt vor überzogenem Optimismus. Nach dem coronabedingten Einbruch im vergangenen Jahr, als Italiens Wirtschaftsleistung um 8,9 Prozent schrumpfte, handle es sich bisher lediglich um eine Konjunkturerholung. «Wir müssen fähig sein, dieses Wachstum auch in den kommenden Jahren zu erhalten», sagt der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank.
Die Aufholjagd der Wirtschaft muss in ein strukturelles Wachstum verwandelt werden. Dabei kommt es jetzt darauf an, dass das viele Geld richtig ausgegeben wird. «Italien befindet sich nach vielen Jahrzehnten zum ersten Mal in der Lage, seine Wirtschaft komplett neu auszurichten», sagt Laurence Boone, Chefökonomin der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Jetzt oder nie.
Draghi will um jeden Preis die Rückkehr von Einschränkungen und Schliessungen verhindern, um den Aufschwung zu schützen.
Darum gibt es Dinge, bei denen Mario Draghi sich erst gar nicht auf Diskussionen einlässt. Die Impfstrategie zum Beispiel. Als in Italien vor zwei Wochen die Covid-Zertifikatspflicht am Arbeitsplatz in Kraft trat, drohte eine aufgebrachte Minderheit von Impfgegnern, ganz Italien bis Weihnachten mit Blockaden der Häfen und der Autobahnen lahmzulegen.
In Draghis Koalition der nationalen Einheit sperrte sich auch die rechtspopulistische Lega gegen die harsche, weltweit einmalige Massnahme. Ein paar Tage lang herrschte in den Medien höchste Aufregung. Draghi aber beachtete die Aufruhr überhaupt nicht. Und so geschah dann: nichts. In Italien wird, auch mit der strengen 3-G-Regel, weiter hart gearbeitet, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen.
Der sogenannte Green Pass gilt seit 15. Oktober ausnahmslos für alle Erwerbstätigen. Der italienische Sonderweg ist Draghis «Whatever it takes» im Kampf gegen die Seuche. Im Juli 2012 rettete der damalige Chef der Europäischen Zentralbank mit seinen berühmten drei Worten den Euro.
Nun will die römische Regierung um jeden Preis die Rückkehr von Einschränkungen und Schliessungen verhindern, um den Aufschwung zu schützen. Der Impf-Kraftakt soll die Italienerinnen und Italiener von der Pandemie erlösen. Seinem Ziel ist Draghi sehr nahe gekommen.
Mehr als 86 Prozent der über Zwölfjährigen sind geimpft. Die von den Wissenschaftlern vorgegebene Marke von 90 Prozent ist in Sicht. Gelohnt hat sich der unbeirrte Einsatz schon jetzt. In Italien liegen die täglichen Neuansteckungen pro Kopf deutlich unter denjenigen in der Schweiz. «Die Impfungen waren für Italien ein Game-Changer», heisst es beim Internationalen Währungsfonds.
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Ganz dem dauerhaften Wachstum verschrieben ist auch der Budgetentwurf für das kommende Jahr. Auf 30 Milliarden Euro belaufen sich die Massnahmen des expansiven Haushalts. Er sieht Steuersenkungen in Höhe von zwölf Milliarden Euro, riesige Investitionen und eine Neuordnung der Sozialausgaben vor, die auf eine Anhebung der Beschäftigungsquote vor allem bei Frauen und jungen Menschen und auf die Reduzierung der wachsenden Ungleichheit durch die Pandemie abzielt.
Wie immer nahm Draghi auf die Wünsche der Parteien wenig Rücksicht. Er ist seit Monaten damit beschäftigt, die Exzesse der populistischen Regierungsparteien aus den Jahren 2018 und 2019 zu neutralisieren. Seine Regierung streicht oder korrigiert Massnahmen, mit denen die Koalition aus Fünf Sterne und Lega einst ganz Europa gegen Italien aufgebracht hatte.
Im Haushaltsgesetz kassierte die Regierung nun mit den Stimmen der populistischen Minister die vor drei Jahren eingeführte Frührente ein. Das Wahlgeschenk der Lega hatte das Ruhestandsalter von 67 Jahren auf 62 Jahre abgesenkt. Das kostet den hoch verschuldeten Staat 30 Milliarden Euro in zehn Jahren.
2022 gewährt Draghi ein Übergangsjahr, in dem man sich mit 64 Jahren aus dem Arbeitsleben zurückziehen darf. «Danach kehrt Italien zur Normalität der Beitragsrente zurück», verkündete er. Wie sich diese Rückkehr gestalten wird, steht noch nicht fest. «So sitzt man das Problem erst einmal aus», kritisierte darum der Mailänder Wirtschaftsprofessor Carlo Cottarelli.
«Geld und Reformen – jetzt haben wir zum ersten Mal beides gleichzeitig.»
Auch das Bürgergeld, das die Fünf Sterne als eine Wunderwaffe der Beschäftigungspolitik verkauft hatten, wurde einmütig zum Flop erklärt. «Es ist klar, dass das System nicht funktioniert hat», sagte Draghi. Für seine Bezieher sei das Grundeinkommen ein Anreiz gewesen, lieber Schwarzarbeit als einen regulären Job anzunehmen. Nun wird man mit Auflagen, Kontrollen und Kürzungen gegen Missbrauch angehen.
Draghis Plan sieht vor, Italien mit beispiellosen Investitionen und weitreichenden Reformen von seinen Wachstumshemmnissen zu befreien. «Geld und Reformen – jetzt haben wir zum ersten Mal beides gleichzeitig», sagt sein wirtschaftlicher Berater, der Ökonom Francesco Giavazzi. Und so diskutieren internationale Wirtschaftsexperten ernsthaft darüber, ob vor Italien nun ein goldenes Jahrzehnt liegt.
Die Mehrheit hält es für zu früh, um zu sagen, ob der Plan funktionieren wird. Das liegt auch daran, dass es bis zur Wahl des neuen Staatspräsidenten in Rom nur noch drei Monate sind. Welches Amt Draghi im Februar bekleiden wird, ist noch unklar.
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