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Mario Draghi im Porträt
Ist er Europas neuer Merkel?

Plötzlich hört Europa auf Rom – vor allem hört es auf ihn: Mario Draghi bei einem virtuellen G7-Treffen zu Afghanistan. (24. August 2021) 
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Zum Dessert gab es eine Überraschungstorte. Als Mario Draghi neulich nach einem langen Tag in Rom für ein Diner mit Emmanuel Macron nach Marseille flog, sollte niemand von seinem Geburtstag erfahren. Zu unwichtig für ein Arbeitsessen in anstrengenden Zeiten. Aber natürlich wissen die Protokollabteilungen immer Bescheid. Draghi wurde an jenem Tag 74 Jahre alt. Es gab schöne Fotos aus einem berühmten Restaurant an der Corniche, im Hintergrund die Lichter an Marseilles Küsten, das schwarze Mittelmeer.

Der italienische Premier und der französische Präsident, beide früher Banker, kennen und schätzen sich schon lange. Es heisst, sie würden an einer Achse arbeiten: zwischen Paris und Rom. Dabei führte die Hauptachse in der Europäischen Union bisher doch immer von Paris nach Berlin. Geraten da einige alte Gewissheiten in Bewegung? Mit und wegen Draghi? Die Sternkonstellation über Europa ist gerade insgesamt und einmalig günstig für Italien. Findet man wenigstens in Italien. Ein paar Argumente dafür gibt es tatsächlich, offensichtliche und beiläufige.

Sogar den Eurovision Song Contest hat Italien gewonnen in diesem Jahr, mit einer Rockband dann noch, laut und frech.

Sportlich ist man gerade eine Macht, Europameister im Herrenfussball und im Frauenvolleyball, Olympiasieger in der Paradedisziplin Hundertmeterlauf und in der Männerstaffel. Sogar den Eurovision Song Contest hat man gewonnen in diesem Jahr, mit einer Rockband dann noch, laut und frech. Die Wirtschaft wächst stärker als anderswo, vielleicht werden es am Ende des Jahres 6 Prozent sein, was auch an der scharfen Rezession in der ersten Phase der Pandemie liegt.

Jetzt fliessen die Zuschüsse und Darlehen aus Brüssels Wiederaufbaufonds, mehr als 200 Milliarden Euro gibt es für Italien. Damit lässt sich etwas machen, träumen lässt sich damit. Und dann ist da Mario Draghi, so etwas wie der Traumgarant, Hauptlieferant eines neuen Selbstverständnisses.

Eine neue Achse? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (Mitte) und Mario Draghi (rechts) mit dem Starkoch Gérald Passédat in dessen Restaurant in Marseille am 3. September. 

Von allen italienischen Ministerpräsidenten der jüngeren Vergangenheit hatte keiner das internationale Standing des früheren Chefs der Europäischen Zentralbank – oder wie seine Freunde und Fans ihn nennen: «Supermario», «Retter des Euro». Natürlich hat er auch Feinde, gerade in Deutschland. Die zeichnen ihn als Graf Dracula, der mit seiner expansiven Währungspolitik in der Finanzkrise die Steuerzahler im Norden Europas ausgesaugt habe, zugunsten des angeblich verschwenderischen Südens.

Retter und Dracula: Beides ist überzogen. Doch seine Aura ist so stark, sein Profil so klar geschnitten, dass man Rom nun auch im Ausland wahrnimmt. Man hört uns zu, sagen die Italiener. Gemeint ist aber, dass man Mario Draghi zuhört, ihm allein. Man traut ihm zu, Europas Gegenwart zu prägen.

Die Italiener sind gewohnt, dass ihre Politiker vor allem viel reden. Der lakonische Stil Draghis ist eine Kulturrevolution.

Die Sterne über Italien stehen nämlich auch deshalb so gut, fein auf Linie für einmal, weil sie über zwei anderen grossen Ländern der Europäischen Union gerade durcheinandergeraten könnten. In Deutschland endet die lange Kanzlerschaft Angela Merkels, und eine feste Prognose dazu, was dann kommen könnte, wäre hochgradig unseriös. In Frankreich finden im Frühjahr 2022 Präsidentschaftswahlen statt, und auch da scheint fast alles möglich zu sein.

Bleibt Italien mit seiner Einheitsregierung, bei der von ganz links bis hart an den rechten Rand fast alle Parteien mitmachen. Nur die Postfaschisten von Fratelli d’Italia sind nicht dabei. Doch Einheit, so lehrt die Geschichte, muss in der italienischen Politik nicht viel heissen: Nichts ist flüchtiger als die Standhaftigkeit einer Regierung.

Dennoch ist diesmal alles etwas anders, auch im öffentlichen Diskurs. Wenn einer so selten und dann so wenig redet wie Draghi, hat er entweder wenig zu sagen. Oder er braucht einfach nicht so viele Worte, um sich verständlich zu machen. Der parteilose Premier stanzt seit Amtsantritt kurze, verständliche Sätze in die Köpfe der Italiener: zum Impfen, zum Green Pass, zu den Infrastrukturen, zu den Reformen, zur Zukunft des Landes.

Und da diese gewohnt sind, dass Politiker vor allem viel reden, fällt der lakonische Stil von Draghi, dem Theoretiker des unverhandelbaren «Whatever it takes», umso mehr auf. Er bricht mit der alten, geschwätzigen Liturgie des italienischen Politbetriebs, eine mittlere Kulturrevolution.

Er sei schliesslich auch kein Politiker, heisst es dann immer, sondern ein Technokrat. Aber stimmt das auch?

Draghi lässt die Parteien eine Weile maulen, dann lädt er die Sekretäre zu sich und lässt sein Prestige ein bisschen wirken.

Ein Beispiel. Neulich wurde Draghi gefragt, was er davon halte, dass Matteo Salvini von der Lega, Partner in seiner Regierung, aus Sorge um den Verlust einiger Wähler mit den Impfgegnern flirte. Draghis Antwort dauerte nur eine halbe Minute. «Der Appell, sich nicht impfen zu lassen», sagte er, «ist ein Appell zu sterben – im Wesentlichen. Wenn du dich nicht impfst, steckst du dich an und stirbst. Oder du bist der Grund für das Sterben: Du impfst dich nicht, wirst krank, steckst andere an, er, sie stirbt. So ist das.»

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Niemand kann seither behaupten, er kenne die Haltung des Premiers zum Impfen nicht. Er laviert nicht, nie. Salvini fand, er habe die Massregelung nicht verdient, postete dann aber den QR-Code seines Covid-Zertifikats. Es ist immer dasselbe: Draghi lässt die Parteien eine Weile maulen. Dann ruft er die Sekretäre zu sich, lässt sein Prestige auf sie wirken, und die Querelen verpuffen.

Nun ist Rhetorik nicht alles, und manchmal liegt in der Verkürzung die Gefahr einer Banalisierung. Als Draghi den gewählten türkischen Präsidenten Tayyip Recep Erdogan einmal einen «Diktator» nannte, fragte man sich in Rom, ob dem Premier da womöglich ein Fauxpas unterlaufen sein könnte. Sehr wahrscheinlich ist das nicht. Bei Draghi gewinnt man immer den Eindruck, er sei so sehr bei sich, stehe so fest zu seinen Überzeugungen, dass ihn das Getöse rundherum nicht kümmert.

Draghis Aura glänzt nur so lange über die Grenzen hinweg, als er die hohen Erwartungen erfüllt und Italien mitzieht.

Er interpretiert seine Rolle auch viel politischer, als sich das die Italiener bei seiner Berufung ausgemalt hatten: Er gestaltet. Dabei sollte er Italien einfach mit einem ordentlichen Plan für den Wiederaufbau bescheren und die Reformen umsetzen, die man in Brüssel für das viele Geld erwartet. Das war die Idee. Und daran arbeitet Draghi bisher auch ziemlich effizient: Die Justizreform ist durch, nun sind die Wettbewerbsregeln dran, dann kommt die Steuerreform – alles noch in diesem Jahr.

Wenn man weiss, wie lange solche Dinge in Italien normalerweise dauern, wäre auch das eine Sensation. Und ausweglos. Denn Draghis Aura glänzt nur so lange über die Grenzen hinweg, als er die hohen Erwartungen erfüllt und Italien mitzieht.

Ohne Politik geht das nicht. Neigt er nun eher zur linken oder zur rechten Mitte? Er selbst verwehrt sich solchen Definitionen, doch die Debatte flirrt durch Rom. Die recht führungsschwache Linke hätte ihn gerne für sich, doch Draghi ist ein Marktliberaler, wenn auch einer mit eingebautem sozialem Korrektiv. Die Rechtspopulisten und Nationalisten fürchten den überzeugten Europäer, weil der vielen heimatlos gewordenen, gemässigten Konservativen und Christdemokraten wie eine Lichtfigur vorkommt. Draghis Popularität liegt zwischen 60 und 70 Prozent, je nach Umfrageinstitut.

Alles kreist nun um die Wahl des neuen Staatspräsidenten im Februar 2022. Soll Draghi den Posten wechseln? Oder besser nicht?

Aber eben: Draghi ist jetzt 74. In diesem Alter kommen Überflieger der italienischen Politik für das Amt des Staatspräsidenten infrage. Im kommenden Februar wählt das Parlament den Nachfolger von Sergio Mattarella. Dann wird auch Draghis Name fallen, zwangsläufig.

Die entscheidende Frage ist nun: Ist es gescheiter, dass der gute Draghi in den kommenden sieben Jahren als Staatschef vom Quirinalshügel hinab auf die Niederungen der römischen Politik und deren Palazzi schaut, entrückt und ohne operative Verantwortung? Oder sollte er nicht besser noch bis zum Ende der Legislaturperiode 2023 dafür sorgen, dass Italiens Zukunft in die Wege geleitet wird? Mit klarer Linie und gestanzten Sätzen.