Interview zum Planen des neuen Jahres «Mit einer Papier-Agenda ist es einfacher, die Übersicht zu behalten»
Wer durchgeplant ist, verdrängt vieles und gerät in einen rasenden Stillstand, sagt Arbeitsforscher Hans Rusinek. Was er empfiehlt, um 2024 mehr im Moment zu sein.
Herr Rusinek, haben Sie 2023 einen Termin verpasst?
Ja. Aber nur, weil ich in die falsche Stadt gefahren bin. Ich wollte an eine Konferenz und habe mir den falschen Ort in meinen Kalender eingetragen.
Was für eine Art Kalender führen Sie?
Einen Papierkalender von einer Marke, die schön, aber nicht besonders preiswert ist. Diesen kaufe ich schon seit zehn Jahren. Neben den Terminen schreibe ich mir am Abend immer auch auf, was das Schönste war, das mir an diesem Tag passiert ist. Sie könnten mich also fragen, was ich am 17. Juni 2014 Schönes erlebt habe.
Gibt es da ein Muster? Also etwas, das Sie besonders oft glücklich macht?
Meistens hat es etwas mit Essen zu tun. Oder mit zufälligen Begegnungen. Da ich vor eineinhalb Jahren Vater geworden bin, reichen die paar Zeilen, die ich im Kalender habe, momentan meistens nicht mehr aus.
Haben Sie sich bewusst gegen einen digitalen Kalender entschieden?
Ja. In einer Studie der Columbia Business School hat eine Gruppe einen digitalen Kalender geführt und eine andere einen Papier-Kalender. Die Gruppe mit dem altmodischen Kalender machte viel detailliertere Pläne und hielt sich auch stärker daran. Etwas mit der eigenen Hand Geschriebenes fühlt sich für uns verbindlicher an, gleichzeitig scheinen wir auch eine Art Körpergedächtnis zu haben, wir können es uns viel besser merken als etwas Getipptes oder auch nur auf den Touchscreen Gestreicheltes.
Hat eine Papier-Agenda noch andere Vorteile?
Es ist einfacher, den Überblick zu behalten. Forschungen zeigen, dass wir mit einem Wochenkalender am besten zurechtkommen. Bei einem digitalen Kalender ist die Wochenansicht zwar auch möglich, aber es gibt eben auch noch viele andere Ansichtsmöglichkeiten, in denen wir uns verlieren können.
Warum machen wir diese ganze Planerei überhaupt?
Vor allem, weil wir als Gesellschaft extrem aufeinander angewiesen sind. Wir sind nur so wahnsinnig produktive Tiere, weil wir grosse Arbeitsprojekte in kleine machbare Pakete unterteilen können, dafür nutzen wir die Sprache und als Verlängerung davon sprach- und zeichenbasierte Systeme wie den Terminkalender. Es gibt zwar den Glauben, dass es besondere Genies gibt, die alles aus sich heraus leisten könnten: Marc Zuckerberg oder Elon Musk etwa. Aber auch die können nicht alles selbst. Elon Musk kann vielleicht den Reifen eines Teslas wechseln, aber bestimmt kein ganzes Auto bauen. Und dann hat das Planen für mich auch noch eine spirituelle Komponente.
Wie meinen Sie das?
Wir leben in chaotischen Zeiten. Und das Planen gibt uns das Gefühl, die Welt im Griff zu haben. Dass wir uns auf Dinge verlassen können. Dass wir hoffen können. Darum tut es auch gut, To-dos abzuhaken. Ich muss Ihnen jetzt etwas beichten.
Was denn?
Manchmal, wenn ich etwas erledigt habe, das aber nicht auf meiner To-do-Liste stand, dann schreibe ich es einfach auch noch hinzu und hake es ab. Das gibt mir das Gefühl, mir etwas vorgenommen und es dann erledigt zu haben. Wunderschön, nicht?
Schon. Aber kann man denn nicht auch zu viel planen? Also, dass man irgendwann nur noch in seinem Kalender lebt?
Ja, auf jeden Fall. Wenn wir alles planen, werden wir zur Maschine. Es gibt dann keine zufälligen Begegnungen mehr. Und das ist fatal. Spontaneität ist sehr wichtig. Aber ironischerweise kann man auch Spontaneität planen. Ich plädiere deshalb stark dafür, sich Freiräume in den Kalender einzutragen und dann die Langeweile auszuhalten. Weil sonst gerät man in einen rasenden Stillstand. Man kriegt nichts mehr mit und lässt sich nicht mehr berühren von der Welt. Es ist schön, Dinge zu erledigen, To-dos abzuhaken, aber die wahre Magie passiert in den Zwischenräumen, dort findet sich auch die Kreativität und Energie für das nächste Projekt. Ansonsten ist man gefangen im Hamsterrad und kann sich auch nicht mehr verändern. Das ist ein grosses Risiko. Wenn eine Person keine Langeweile aushalten kann, dann ist das ein starker Indikator für ein Burn-out.
Ist der spontane Mensch also glücklicher als der durchgetaktete?
Nein, das würde ich nicht sagen. Es wird unserer menschlichen Existenz ebenso wenig gerecht, wenn wir die ganze Zeit herumsiechen oder mönchsartig meditieren, wie wenn wir uns nur abhetzen. Die Mischung machts! In unserer kapitalistischen Realität gibt es aber nur den einen Modus.
Welchen?
Wir sind es gewohnt, immer «full of speed» zu sein, denn das gibt uns eine Art von Selbstwert. Für diese Gehetztheit sind wir oft selbst verantwortlich. Bei manchen Personen führt ein leerer Kalender zu einer Art Minderwertigkeitsgefühl. Wer bin ich, wenn mich niemand anruft? Wer bin ich, wenn ich keine Meetings habe? In unserer Gesellschaft ist es ja so, dass ein Tag voller Meetings eigentlich nur das Zweitbeschissenste ist.
Und was ist das Beschissenste?
Gar keine Meetings zu haben.
Warum ist das so?
Zum einen, weil uns Meetings Selbstwert geben, zum anderen, weil all die Termine uns beim Verdrängen helfen. Wer einen vollen Kalender hat, der hat keine Zeit, sich selbst zu hinterfragen. Das kann auf eine sehr toxische Weise stabilisierend sein. Für Individuen und auch für das System.
Merken Sie das persönlich?
Ja klar. Zum Beispiel in den Ferien. Da streitet man ja oft mehr als im Alltag und hat Zeit, sich zu hinterfragen. Das ist sehr unangenehm, aber es ist wichtig, sich seinen eigenen Dämonen zu stellen. Die Philosophin Susan Sonntag hat beschrieben, wie Menschen arbeitsamer Kulturen – die deutsche und die japanische etwa – in den Ferien alles abfotografieren. Sie holen ihre Kamera heraus und tun so, als würde das kulturelle Erbe von Florenz oder Istanbul von ihrer Arbeit abhängen.
Imitieren sie also Arbeit in den Ferien, nur um sich nicht hinterfragen zu müssen?
Genau ja.
Irgendwie traurig, oder?
Ja, wir geben uns selbst Aufträge, weil uns die Arbeit am Laufen hält. Das ist die dunkle Seite der Macht. Aber als jemand, der Fake-To-dos auf seine Listen schreibt, kann ich mich da nicht ausnehmen.
«Es ist ungesund, gegen den eigenen Chronotyp zu arbeiten»
Würde es uns also helfen, wenn wir gar keinen Kalender führten und mehr im Kopf behielten? Denn so müssten wir uns automatisch reduzieren.
Das ist ein reizvoller Gedanke. Der Fokus wäre sicher auf den Dingen, die wirklich wichtig sind. Ich habe mal einen Creative Director eines bekannten Modehauses kennen gelernt, der keinen Kalender führte. Für seine Mitarbeitenden war das ziemlich anstrengend. Sie mussten ihm die ganze Zeit nachrennen. Irgendjemand muss dann ja doch den Termin-Überblick behalten.
Könnten Sie auf Ihren Papier-Kalender verzichten?
Nein, keine Chance. Ich denke, das macht auch wirklich nur Sinn, wenn man nicht seine ganze mentale Kapazität dafür verbrauchen würde, die Termine im Kopf zu behalten. Das wäre bei mir der Fall.
Haben Sie einen anderen Trick, der helfen kann, dass man mehr im Moment lebt?
Es hat sich erwiesen, dass man sich an Vorhaben im Kalender viel eher hält, wenn sie spezifisch sind. Das heisst nicht, dass man jetzt «Bleistiftspitzen» hineinschreiben soll. Aber eben auch nicht: «Strategie fertig haben». Sondern eher: «Ersten Entwurf für Strategie schreiben». Was mir zudem hilft, ist, To-dos nicht mitzuschleppen. Wenn wir sie etwa Woche für Woche auf die nächste Kalenderseite weiterschieben, dann sind sie nicht genug wichtig und wir können sie streichen. Und was mein Leben wirklich verändert hat, ist, dass ich heute besser auf meinen Chronotypen schaue als früher.
Was heisst das konkret?
Jeder Mensch hat eine eigene innere Uhr. Es gibt den Löwen, der früh aufwacht und seine produktivste Zeit am Vormittag hat. Den Wolf, der gegen Abend erst aufblüht und Nachtschichten liebt. Und schliesslich den Bären, der seinen Höhepunkt in der Mitte des Tages hat.
Was ist Ihr Chronotyp?
Ich bin ein Löwe, und das habe ich erst sehr spät gemerkt. Ich habe Freunde, die Nachtschichten schieben, immer beneidet und nachgeahmt. Aber das hat mir überhaupt nicht gutgetan. Es ist sehr ungesund, gegen seinen eigenen Chronotyp zu arbeiten. Jetzt schaue ich immer, dass ich den Vormittag für die Aufgaben nutze, für die ich wirklich volle Konzentration brauche. Denn dann bin ich am produktivsten.
Nicht alle Leute können ihre Arbeitszeit selbst einteilen.
Klar, das setzt krasse Privilegien voraus. Wenn ich in der Migros an der Kasse arbeite, kann ich nicht einfach sagen: «Hey Leute, ich bin ein Wolf und will erst um 22 Uhr arbeiten.» Das ganze Kalender-Thema hat auch viel mit Macht zu tun.
Wie meinen Sie das?
Wenn mein Doktorvater anruft und am Abend einen Termin abmachen will, dann sage ich ihm nicht, dass ich mich als Löwe identifiziere, sondern nehme den Termin an. Die Person in der Machtposition bestimmt den Kalender und gibt den Takt vor.
Nun noch etwas Pragmatisches: Würden Sie empfehlen, die privaten und geschäftlichen Termine in zwei unterschiedlichen Kalendern zu führen?
Da bin ich sehr unentschlossen. Wir haben ja die Tendenz, unser ganzes Leben in To-do-Listen zu verwandeln. Beziehungsarbeit, Selfcare-Arbeit – wir machen alles irgendwie zu Arbeit und haben dann überall Freizeitstress. Deshalb kann es gefährlich sein, nur einen Kalender zu führen. Auf der anderen Seite ist es halt schon so, dass wir nicht zweigespaltene Wesen sind – ein Arbeitswesen, ein Freizeitwesen –, sondern eine zusammenhängende Person. Das spricht dann eher wieder für nur einen Kalender.
Und was halten Sie davon, wenn man den Kalender mit seiner Partnerin oder gar mit der ganzen Familie teilt? Empfinden Sie das eher als Freiheitsverlust oder als Vereinfachung?
Mit meinem Papier-Kalender ist das natürlich schwer. Ich weiss nicht. Ich glaube, das hängt stark von der Beziehung ab. Ich soll Ihnen von meiner Frau mitteilen, dass ich dazu ja offensichtlich nicht in der Lage bin.
Haben Sie noch einen Tipp, den man bei der Planung des neuen Jahres auf jeden Fall berücksichtigen soll?
Ja: die Not-to-do-Liste. Wenn Sie sich endlich zum Joggen durchgerungen haben, und danach einfach nur froh sind, dass es vorbei ist, dann schreiben Sie das auf: «Nie wieder joggen». Auch, wenn Sie eine Person getroffen haben, die Sie nur nervt. Das hilft. Denn so kann man nach vorne schauen und bekommt nicht einen Infarkt vor lauter To-dos.
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