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Palästinensischer Gefangener frei
«Ich dachte, er bleibt Jahre in Haft» – nun kehrt Nazim (16) heim

A newly released Palestinian prisoner hugs relatives during a welcome ceremony for prisoners freed from Israeli jails in exchange for Israeli hostages released by Hamas from the Gaza Strip, during a welcome ceremony in Ramallah in the occupied West Bank on November 28, 2023. Israel's prison service said 30 Palestinian detainees were released on November 28, 2023 under the terms of a truce agreement between Israel and Hamas in the Gaza Strip. The announcement came after 10 Israeli hostages were freed in the Palestinian territory under the deal, along with two Thai citizens. (Photo by Kenzo TRIBOUILLARD / AFP)
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Draussen ist es finster und nasskalt, und drinnen auf den Gängen vor der Sporthalle werden die Stunden immer länger: Ismahan Abu Arra aber lächelt selig und sagt: «Ich freue mich so sehr. Ich will ihn nur umarmen, ansehen, küssen. Ich dachte, mein Junge bleibt auf Jahre in Haft.»

Eine palästinensische Mutter wartet auf ihren verlorenen Sohn. Der 16-jährige Nazim sass vier Monate in einem israelischen Gefängnis. Seine Haft hätte immer wieder verlängert werden können, ohne Angabe von Gründen. Noch ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr – das israelische Recht erlaubt das. Jetzt aber kommt Nazim frei, ganz unerwartet. Ob er in wenigen Minuten oder erst in ein paar Stunden auftaucht – für die 47-jährige Ismahan Abu Arra spielt es keine Rolle: «Ich hatte so furchtbare Angst, dass sie ihn noch einmal sechs Monate festhalten.»

Sie feiern die Hamas

Sie weiss, dass bald die Busse des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds vor dem Bürgerzentrum in Ramallah halten werden, dort warten die Familien und Freunde auf die freikommenden palästinensischen Häftlinge. Rundherum werden die grünen Flaggen der Hamas geschwenkt und die gelben der Fatah. Die Hamas mag in Israel und Teilen der Welt als Terrororganisation gelten (lesen Sie die Einordnung zur Debatte in der Schweiz), und das nicht erst seit dem beispiellosen Massaker vom 7. Oktober. Aber die Menschen vor dem Bürgerzentrum nennen sie nur «der Widerstand», verehren ihre Kämpfer als Helden.

Anders als die Fatah. Sie war selbst jahrzehntelang eine gefürchtete Terrorgruppe, aber seit sie Mitte der 90er-Jahre zum international akzeptierten Partner der Israelis bei der Verwaltung des Westjordanlands wurde, gilt sie vor allem bei jungen Palästinensern als Knecht der Israelis.

Wenn die abgemagerten und bleichen Ex-Gefangenen in ihrer dünnen Haftkleidung aus den Bussen steigen, werden sie unter dem Gewirbel all der grünen und gelben Flaggen auf den Schultern ins Bürgerzentrum getragen werden, begleitet von Jubelgesängen: «Mit dem Herz und mit dem Blut – wir stehen hinter der Hamas.»

Um ihren Sohn in Ramallah abzuholen, ist Ismahan Abu Arra stundenlang durch das halbe Westjordanland gefahren.

Es ist der Austausch palästinensischer Gefangener gegen israelische Geiseln. 1200 Menschen hat die Hamas im Süden Israels abgeschlachtet und rund 240 nach Gaza verschleppt. 81 Geiseln wurden bis Mittwochnachmittag ausgetauscht, darunter 21 thailändische Saisonarbeiter, die auch aus den Kibbuzim gekidnappt worden waren. Im Gegenzug liess Israel im Zuge des um zwei Tage verlängerten Abkommens 180 Palästinenser frei. Auf beiden Seiten durften nur Frauen, Kinder und Minderjährige nach Hause gehen. Die meisten Leute vor dem Bürgerzentrum sagen zu den Terrortaten vom 7. Oktober: «Seitdem nimmt die Welt uns Palästinenser wieder wahr. Sie hatte uns zehn Jahre lang vergessen. Dafür danken wir der Hamas.»

Um ihren Sohn in Ramallah abzuholen, ist Ismahan Abu Arra stundenlang durch das halbe Westjordanland gefahren, vorbei an den israelischen Kontrollposten. Vor vier Monaten wurde Nazim festgenommen, warum, weiss sie nicht. «Ich vermute, er wollte illegal in Israel arbeiten und wurde an der Grenze ohne Papiere erwischt.»

Festnahme ohne Beweise

Möglich. Möglich auch, dass Nazim Abu Arra Steine oder Molotowcocktails geworfen oder ein Gewaltverbrechen geplant hat. Wer weiss das schon. Israels «Administrative Detention»-Gesetz gestattet Festnahmen allein wegen eines Verdachts der Planung einer Straftat, ohne Begründung oder Nennung nachvollziehbarer Beweise. Auch die halbjährlichen Haftverlängerungen können Militärrichter ohne Angaben von Gründen verhängen. Manche Palästinenser sitzen so über Jahre ohne Urteil in Administrativhaft. Israelische Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem sprechen von «einem groben Verstoss gegen internationales Recht».

Auskunft zu erbitten, hat keinen Sinn. Die israelische Gefängnisverwaltung gibt Angehörigen keine Details preis – und eine Anfrage des US-Senders CNN beantwortete sie kürzlich so: Alle im Austausch für israelische Geiseln freigelassenen Palästinenser seien wegen schwerer Vergehen wie «Mordversuche, tätliche Angriffe, das Schleudern von Brandsprengstoffen» inhaftiert worden, «auf der Grundlage geltenden Rechts».

Doch dieses Recht ist umstritten. Rund 80 Prozent der auf den Austauschlisten genannten Palästinenser waren laut CNN ohne Gerichtsurteil in Haft. Wie Obeida Hamad, 17 Jahre alt. Jetzt ist er zurück, sitzt im Wohnzimmer seiner Eltern in Sinwad, einige Kilometer entfernt vom Bürgerzentrum in Ramallah. Mit ihm drängen sich seine Mutter, zwei Brüder und eine Schwester auf dem Sofa, auch Onkel und Tante sind gekommen. Ein Blechofen bullert.

A crowd surrounds a Red Cross bus carrying Palestinian prisoners released from Israeli jails in exchange for hostages released by Hamas from the Gaza Strip, in Ramallah in the occupied West Bank on November 28, 2023. Israel's prison service said 30 Palestinian detainees were released on November 28, 2023 under the terms of a truce agreement between Israel and Hamas in the Gaza Strip. The announcement came after 10 Israeli hostages were freed in the Palestinian territory under the deal, along with two Thai citizens. (Photo by KENZO TRIBOUILLARD / AFP)

Hamad ist übermüdet. Wortkarg und mit fahlem Gesicht sitzt er da, schon seit drei Tagen wird seine Rückkehr gefeiert. Fast eineinhalb Jahre war er in Israel inhaftiert. Ab und an klingelt es an der Tür, dann läuft er mit schnellen Schritten zum Hof, wo Freunde warten, um ihn zu begrüssen. Sie kommen in Gruppen, umarmen ihn, klopfen ihm auf die Schulter, grossartig, dass du durchgehalten hast. Seine Schwester Malak sagt: «Mein Bruder ist ein Held.»

Seine Familie erzählt, sie habe gesehen, dass er bei der Festnahme von Soldaten geschlagen worden sei. Auch im Gefängnis habe man ihren Sohn misshandelt, so wie die anderen Gefangenen, sagt die Mutter. Hamad selbst sagt nur: sechs Mann in einer Zelle, keine Bücherei, Besuch nur einmal im Monat, 45 Minuten mit Trennglasscheibe. Mehr will er nicht sagen – «wegen eines falschen Wortes, das den Israelis nicht gefällt, kann ich sofort weggesperrt werden». Auch das gehört zur Administrativhaft, sie kann jederzeit wieder angeordnet werden. Einspruch ist möglich, aber fast immer erfolglos.

De facto gilt im israelisch besetzten Westjordanland ein Zweiklassenrecht: das Zivilrecht für Israelis und das Militärrecht samt Administrativhaft für Palästinenser. Als Hamad vor 17 Monaten festgenommen wurde, umstellten Dutzende Soldaten morgens um halb fünf das Haus, sprengten die Eingangstür auf. Im Elternschlafzimmer und im Zimmer der neunjährigen Schwester standen Bewaffnete. Hamads Mutter sagt: «Ich habe die Nerven verloren, nur noch geschrien.» Die Soldaten hätten alles durchsucht, Schränke und Schubladen durchwühlt. «Selbst unter die Dachziegel haben sie geschaut.»

«Anderswo bist du unschuldig, bis du überführt wirst. Hier giltst du als schuldig, bis du selbst deine Unschuld belegen kannst.»

Obeida Hamad ist beim zweiten Austausch freigekommen. Weil auch er in Administrativhaft war, blieb bis zuletzt unklar, was dem Schulabbrecher vorgeworfen wird. «Er ist ein guter Junge», sagt seine Mutter. Möglich. Möglich auch, dass er Steine geworfen hat. Praktisch alle Palästinenser hassen die israelische Besatzungsmacht, viele sehen Gewalt als legitimes Mittel des Aufbegehrens an. In den besetzen Gebieten treffen sie fast täglich auf israelische Soldaten, oft genug auch auf gewaltbereite, bewaffnete Siedler. Seit dem 7. Oktober erfährt die Hamas noch deutlich mehr Zulauf als zuvor.

Wie lange Hamad auf freiem Fuss sein wird, weiss bei ihm zu Hause keiner. Allein seit Beginn des Austauschs sind palästinensischen Angaben zufolge wieder 168 Menschen inhaftiert worden. Hamads Mutter sagt: «In anderen Staaten bist du unschuldig, bis du überführt wirst. Hier giltst du als schuldig, bis du selbst deine Unschuld belegen kannst.»