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Strenggläubige in Israel
Vom Dienst befreit, ziehen sie freiwillig in den Krieg

Two ultra Orthodox men walk past religious Israeli pre-military aged youth, wave their national flag as they protest outside the Old City of Jerusalem in support of Israel on October 26, 2023, amid the ongoing battles between Israel and the Palestinian group Hamas. Thousands of civilians, both Palestinians and Israelis, have died since October 7, 2023, after Palestinian Hamas militants based in the Gaza Strip entered southern Israel in an unprecedented attack triggering a war declared by Israel on Hamas with retaliatory bombings on Gaza. (Photo by Aris MESSINIS / AFP)
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Seine Tage sind gefüllt mit dem Studium der heiligen Schriften, so war es immer, so ist es bis heute. «Mein Weg ist die Thora», sagt er, und das braucht keine weitere Erklärung. Yakov Orbach (26) ist ein Haredi, ein Gottesfürchtiger, wie sich die ultraorthodoxen Juden in Israel nennen. Doch heute, beim Treffen in einem Jerusalemer Café, nicht weit entfernt von seiner frommen Lehranstalt, treibt ihn noch eine ganz andere Frage um: «Wie kann ich hier herumsitzen, wenn Menschen sterben?»

Auf diese Frage hat er sich selbst schon eine Antwort gegeben – und diese Antwort ist so ungewöhnlich, so unerhört, dass er nicht unter seinem richtigen Namen, sondern nur als Yakov Orbach sprechen will. «Ich habe Angst, dass Leute meine Entscheidung falsch bewerten», sagt er zur Erklärung.

Kurzum: Er hat sich bei der Armee gemeldet, als Freiwilliger für den Kriegseinsatz. Im Internet hat er sich auf der Website der israelischen Streitkräfte registriert. Nun wartet er auf eine Rückmeldung, so ungeduldig, dass er den Antrag inzwischen gleich fünfmal ausgefüllt hat. «Wahrscheinlich haben sie noch nicht geantwortet, weil sie gerade so viele Anfragen haben», sagt er.

Schockwellen in der Parallelwelt

Tatsächlich wird Israels Armee zurzeit von einer unerwarteten Welle getroffen: Mehr als 3000 Haredim haben sich seit Kriegsbeginn schon freiwillig gemeldet – und das, obwohl doch die Ultraorthodoxen, die fast 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, bereits seit Israels Staatsgründung darauf pochen, zum Zwecke des Thora-Studiums vom Armeedienst befreit zu werden. In den vergangenen Jahren hat das in Israels Gesellschaft für viel böses Blut gesorgt, weil ja ansonsten jeder jüdische Mann für drei Jahre und jede Frau für zwei Jahre den Militärdienst ableisten muss.

Auch für Yakov Orbach war die Priorität stets klar. «Ich wollte mit dem Staat nichts zu tun haben», sagt er. «Aber am 7. Oktober hat sich das alles geändert.»

Der Terrorüberfall der Hamas mit 1400 Toten hat Schockwellen auch in seine abgeschottete Parallelgesellschaft gesendet. Nun will er helfen, will teilhaben, egal wie. «Wenn ich jetzt eine Uniform trage, ist es das, was sein muss», sagt er. «Es geht darum, Menschenleben zu retten.» Natürlich weiss er, dass er nicht als Kämpfer zur Armee kann, dafür ist er nicht ausgebildet. Doch jenseits der Front glaubt er, sich an vielen Stellen nützlich machen zu können. «Ich kann körperliche Arbeit übernehmen, ich habe einen Führerschein, ich kann im Büro sitzen.»

Die ultraorthodoxe Gemeinschaft ist kein einheitlicher Block.

Er hat sich für diesen Weg entschieden, und er ist froh, dass er damit nicht allein ist. Mit vier anderen jungen Thora-Studenten teilt er sich eine Wohnung in Jerusalem. «Alle von uns haben sich bei der Armee gemeldet», berichtet er. Doch er weiss auch, dass um ihn herum längst nicht alle seinen Entschluss teilen. Mit seinem Rabbi, so erzählt er, habe er noch nicht darüber gesprochen. Er hat sich nicht getraut. Stattdessen hat er jemanden zu ihm geschickt, um seine Meinung zu erfahren. «Bis jetzt habe ich aber noch nichts gehört», sagt er.

Die ultraorthodoxe Gemeinschaft ist alles andere als ein einheitlicher Block. Was sie eint, ist der fromme, ehrfürchtige Glauben. Was sie unterscheidet, sind nicht nur Hüte, Mäntel und die Art, wie man die Schläfenlocken trägt. Grosse Unterschiede gibt es zwischen Sepharden und Aschkenasen, zwischen den eher Mystischen und den eher Praktischen, zwischen denen, die sich mit dem Staat Israel arrangiert haben und jenen, die den Zionismus als Häresie verdammen. Jeder Rabbi kann sein eigenes Glaubensreich begründen, und natürlich gibt es auch in der Frage der Teilhabe an diesem Krieg unter den Ultraorthodoxen die verschiedensten Meinungen.

Die Hardliner führen das Wort

Wer in Mea Shearim, einer der Haredim-Hochburgen in Jerusalem, hinter die Kulissen aus gepflegten Religionsschulen und heruntergekommenen Häusern schauen will, muss den Blick auf die «Pashkevil» lenken. Diese Wandzeitungen hängen überall, grosse Plakate mit grossen Buchstaben, mit denen die hochmögenden Rabbiner der diversen Strömungen ihre Einschätzungen zur Lage verkünden. Derzeit führen die Hardliner das Wort, die auch in Kriegszeiten jede Öffnung zur säkularen Gesellschaft ablehnen.

(FILES) Ultra-Orthodox Jews visit Israeli army soldiers to show their support as they deploy at a position near the border with Gaza in southern Israel on October 11, 2023. (Photo by Menahem KAHANA / AFP)

Hohn wird hier ausgegossen über eine Staatsführung, die auf die Streitkräfte vertraut statt allein auf Gott. Jede Beteiligung am Krieg wird verdammt. «Wenn ein Kommandant eine Waffe an deinen Kopf hält und dir zwei Möglichkeiten gibt – zur Armee zu gehen oder sofort zu sterben –, musst du die zweite wählen», steht dort geschrieben. «So sagt es unsere heilige Thora.»

«Diese Rabbiner handeln aus Angst», meint Nechumi Yaffe. «Sie fürchten darum, die volle Kontrolle über ihre isolierte Gemeinschaft zu verlieren» – und wenn man ihr zuhört, dann fürchten sie dies wohl zu Recht. In Yaffes Jerusalemer Büro hängt passend dazu ein Spruch von Leonard Cohen: «Es gibt in allem einen Riss. Nur so kommt das Licht hinein.» Und mit diesem Riss, mit einzelnen Lichtstrahlen beschäftigt sie sich als Wissenschaftlerin beim Thinktank Talya.

Nechumi Yaffe geht dort der Frage nach, wie sich die ultraorthodoxe Gemeinschaft öffnen kann, ohne dabei ihre Werte, ihre Identität zu verlieren. Sie macht das nicht mit dem distanzierten Blick von aussen, sondern als Teil der Haredi-Welt, und zum Beleg zupft sie kurz an ihren Haaren. «Das ist eine Perücke, aber eine ziemlich schicke», sagt sie und lacht.

«Jeder tut irgendwas. Im Krieg kann kein jüdisches Herz abseits bleiben.»

Tvzi Berg

Ihr Befund zur aktuellen Lage: «Es gibt bei einem Teil der ultraorthodoxen Gemeinschaft eine klare Veränderung der Norm. Es ist kein Stigma mehr, zur Armee zu gehen.» Auch ansonsten sieht sie diesen Krieg, so furchtbar er ist, als Katalysator dafür, dass sich die Haredim als Teil der israelischen Gesellschaft verstehen. Als Beleg präsentiert sie auf dem Bildschirm bunte Grafiken zu den Umfragen ihres Instituts innerhalb der frommen Klientel.

«Soll sich die ultraorthodoxe Gemeinschaft an Kriegsanstrengungen Israels beteiligen?», lautet eine der Fragen. Vor einem Jahr haben darauf 30 Prozent mit Ja geantwortet. Heute sind es 60 Prozent. Hakt man zurzeit nach, wie genau sich jeder Einzelne einbringen soll, steht ganz oben immer noch: Beten. 68 Prozent sagten das zu Kriegsbeginn, zwei Wochen später waren es 71. Doch angestiegen ist auch eine andere Option: Zur Armee gehen wollten anfangs nur 6 Prozent, später 10. Yaffe sieht in diesen Zahlen einen «Gamechanger».

"Wir wollen die Soldaten glücklich machen": Tvzi Berg liefert jetzt der Truppe Essen.

Tvzi Berg kann ihr da nur zustimmen. «Jeder tut irgendwas. Im Krieg kann kein jüdisches Herz abseits bleiben», erklärt er. Berg ist vor 20 Jahren aus den USA eingewandert, die Weltabgewandtheit vieler seiner israelischen Glaubensbrüder ist ihm fremd geblieben. Für ihn ist klar, dass er auch als Ultraorthodoxer ein «Businessman» sein kann – und mit seinem ganzen geschäftlichen Elan hat er sich nun der Truppenbetreuung verschrieben. «Wir wollen die Soldaten glücklich machen», sagt er.

Zum Glück gehört aus seiner Sicht ein saftiges Steak, weshalb er sein Catering-Geschäft in diesen Wochen ganz auf die Bedürfnisse der Armee zugeschnitten hat. Er bringt Essen zur Truppe, und auch Grillabende hat er im Grenzgebiet zu Gaza schon veranstaltet. Auf einem Video kann man ihn sehen, umgeben von Rauchschwaden, umringt von Soldaten. Ein anderes Video zeigt einen Mitstreiter, der mit einem Laster voller Waschmaschinen auf der Ladefläche bei einem Militärstützpunkt vorgefahren ist.

Sie pochen auf Geschlechtertrennung

«So zeigen wir Religiösen unsere Liebe zur Armee», erklärt er, und wenn es nach ihm geht, ist das alles sowieso nur der Anfang eines grossen Wandels. «Die Streitkräfte können ganz schnell 20'000 oder auch 40'000 Soldaten mehr haben», kündigt er an. Dafür allerdings nennt er eine Bedingung: Die Armee müsse «die Bedürfnisse der Ultraorthodoxen erfüllen». Konkret heisst dies für ihn vor allem, dass Geschlechtertrennung herrschen müsse. «Wenn du willst, dass ein Religiöser kämpft, dann kämpft er mit Männern und nicht mit einer Frau an seiner Seite.»

Einfach also wird das nicht. Kaum sieht man eine Annäherung, taucht gleich ein neuer Graben auf. Doch Yakov Orbach will sich mit solch grundsätzlichen Fragen jetzt nicht beschäftigen. Ihm geht es nicht darum, ob der Armeedienst die Haredim verändert oder ob die Haredim den Armeedienst verändern werden. Er will helfen in Zeiten der Not. «Man muss bereit sein, wenn man gebraucht wird», sagt er. «Ich habe auch keine Angst davor, Menschen mit anderen Einstellungen zu treffen. Denn mein Glaube ist stark.»