Showdown der SprinterEin Tausendstelkrimi bringt Lyles Gold
In einem verrückten 100-m-Final wird der Weltmeister Noah Lyles auch Olympiasieger – einen Hauch vor dem jamaikanischen Aufsteiger Kishane Thompson.
Früher waren die Verhältnisse klar: Kniete Usain Bolt in den Startblöcken, war das Rennen eigentlich entschieden, bevor geschossen wurde. Nach dem Rücktritt der jamaikanischen Überfigur nach der WM 2017 in London – als er von Justin Gatlin bezwungen wurde – ist alles ein bisschen komplizierter geworden. Irgendwie gibt es nicht mehr den schnellsten Mann der Welt (das ist Bolt geblieben), es gibt die schnellsten Männer der Welt. Rückblickend zu jener WM 2017 sind es seither vier verschiedene Weltmeister: Noah Lyles, Fred Kerley, Christian Coleman und eben Gatlin, alle aus den USA. Und der Olympiasieger dazwischen, 2021 in Tokio, heisst Marcell Jacobs, er Italiener.
Fünf Namen, fünf schnellste Männer und keiner unter ihnen, der sich klar hätte von den anderen absetzen können. Das sieht Lyles ein wenig anders. Er ist mit drei Weltmeistertiteln von der letztjährigen WM in Budapest (100 m, 200 m, Staffel) nach Paris gekommen – und einem Anspruch. Als er in Ungarn das Double und später sogar das Triple geschafft hatte, sagte er, das sei der Start in eine «neue Dynastie». Es waren grosse Worte, sie standen in keinem Verhältnis zu der Zeit, die er für die 100 m gebraucht hatte: 9,83 Sekunden. Neue Dynastie? Bolts Weltrekord liegt bei 9,58, Lyles lag da mit seiner Leistung auf Rang 18 der ewigen Bestenliste.
Doch da stand der 27-Jährige schon im Drehbuch von Netflix. Die Macher von «Drive to Survive», der Dokumentation, die der Formel 1 Millionen neuer Zuschauer brachte, wagten sich nach vielen anderen Sportarten auch in die Leichtathletik vor. Sie kreuzten in Budapest mit ihren Kameras auf, besuchten die Hauptdarsteller auch in den USA und in Jamaika. Im Fokus stehen die weltbesten Sprinterinnen und Sprinter, ihre Trainer, auch ihr privates Umfeld. Ikonen wie Shelly-Ann Fraser-Pryce oder Sha’Carri Richardson, die am Samstag mit Silber über 100 m nicht das gewann, was sie wollte, erzählen aus ihrem Leben. Von ihren Bedürfnissen, Ängsten, Zwängen – manchmal auch davon, dass sie als Spitzensportler oft missverstanden werden.
Ein Fall für den Zielfilm
Lyles hat dort seinen grossen Auftritt, wir bekommen von seiner Mutter sogar den positiven Schwangerschaftstest zu sehen, den sie aufbewahrt hat. Soviel Nähe wollte kaum jemand, doch Lyles lachte sein wieherndes Lachen – Hauptsache Show.
Und diese zog er auch am Sonntagabend im Final ab. Mit schwerer Kette um den Hals beschwor er vor dem Start die 70’000 im Stade de France – während sich alle anderen mit hängendem Kopf konzentrierten. Dann ging es los: Und was sich als enges Rennen angekündigt hatte, blieb bis zuletzt ein totes. Alle gleichauf, das Publikum tobte, die Spannung war unermesslich – keiner vermochte sich abzusetzen.
Als alle im Ziel waren, wusste keiner, wem Gold gehört, es musste der Zielfilm entscheiden. Er tat es für Lyles – in 9,79 folgte er auf Jacobs (5.) als Olympiasieger. Und das mit viel Glück. Mickrige fünf Tausendstelsekunden Vorsprung hatte er auf den jungen Jamaikaner Kishane Thompson (ebenfalls 9,79). Der 23-Jährige hatte Ende Juni in Kingston die Jahresweltbestzeit von 9,77 erzielt. Und sich Hoffnungen gemacht. Möglicherweise ist das doch der Anfang einer neuen Dynastie. Der von Lyles.
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