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Analyse zum Start der Spiele
Ist die Schweiz tatsächlich eine Sportnation?

PARIS, FRANCE - JULY 26: Switzerland's Nina Christen (R) and Nino Schurterin (L) wave their country's flag during the Opening Ceremony of the Olympic Games Paris 2024 on July 26, 2024 in Paris, France. (Photo by Martin Meissner - Pool/Getty Images)
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Diese Ski-Weltcupsaison: ein wahrer Schweizer Triumph. An der Fussball-EM im Juni und Juli: ein Schweizer Team im Rausch, das erst im Viertelfinal scheiterte. Und nun folgt mit den Olympischen Spielen noch die ganz grosse Sportbühne. Geht es so weiter? Die Schweiz eine Sportnation?

Einen Dämpfer scheint schon das Marktforschungsinstitut Nielsen zu liefern: Null Goldmedaillen prognostizieren die Spezialisten dem Schweizer Team in Paris – immerhin 6 silberne und 6 bronzene.

Wie viel aber sagt eine solche Prognose überhaupt aus über den Sport im Land? Eine kleine Einordnung: Mit 13 Medaillen – drei goldenen dank Jolanda Neff (Mountainbike), Belinda Bencic (Tennis) und Nina Christen (Schiessen) – war Team Schweiz in Tokio vor drei Jahren so erfolgreich wie keine Olympiaequipe seit 1952.

Das klingt also nach Blütezeit – und ist doch auch eine Frage der Optik: Wenn der Fokus aufs Gold statt auf die Medaillengesamtzahl gelegt wird, war Tokio plötzlich nur noch sehr gut: 1996 sammelten die Schweizer gar 4-mal Gold (total sieben Medaillen).

Ohnehin: Die Bedeutung des Sports einzig über Auszeichnungen in der Spitze zu definieren, wäre falsch. Erst mit dem Nachwuchs- und Breitensport ist das Fundament gebaut, auf dem im Idealfall viele Erfolge auf höchster Ebene möglich werden. Allem zugrunde liegt deshalb ein umfassendes Commitment zum Sport.

Der Insider vergleicht

Darum ist die Schweiz bloss eine halbe Sportnation. Denn ein Blick ins Ausland und auf Nationen ähnlicher Bevölkerungsgrösse mit ähnlichen Mitteln offenbart: Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports kann sehr viel umfassender sein als in der Schweiz.

Das ideale Beispiel für einen Vergleich sind die Niederlande dank ähnlicher Kultur und ähnlichem sozioökonomischen Stand. Das Resultat an der Spitze: Sie gewannen an den letzten Sommerspielen mit rund einer doppelt so grossen Bevölkerung dreimal so viele Medaillen und holten mehr als doppelt so viele Top-8-Rangierungen wie die Schweiz.

Anruf darum bei Laurent Meuwly. Der Romand war viele Jahre in führenden Funktionen im Schweizer Leichtathletikverband tätig. Nun arbeitet er als Nationaltrainer in den Niederlanden. Dort betreut er die Gruppe um Goldmitfavoritin Femke Bol (400 m Hürden).

Meuwly ist nach dem Wechsel rasch dieser Unterschied aufgefallen: Die Niederlande haben den Elitesport aus einem Guss organisiert und zentralisiert. In einem grossen nationalen Leistungszentrum finden die Athleten und Athletinnen: ideale Infrastruktur, ideale Trainingspartner, ideales Coaching – vor allem aber auch Forscher bzw. Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Disziplinen mit nur einem Ziel: praxisnah Leistung zu fördern. Sehr verkürzt: interdisziplinär von den Besten für die Besten.

Das ausgeprägte Gärtlidenken

Eine solch enge Verzahnung existiere in der Schweiz nicht, sagt Meuwly, und sei mit ein Grund, weshalb die Schweizer Kraft in Teilen verpuffe. Hippolyt Kempf, Nordisch-Olympiasieger und Sportökonom, sagt: «Die Schweiz ist kleinräumig und national sehr gut vernetzt, aber Föderalismus und Individualismus erschweren eine Umsetzung aus einem Guss.»

Øyvind Sandbakk, führender norwegischer Sportwissenschaftler, der mit einer Schweizerin verheiratet ist und das hiesige Sportsystem bestens kennt, geht noch einen Schritt weiter. Ihm ist ein ausgeprägtes Gärtlidenken aufgefallen, wie es in Norwegen nicht existiere – trotz nur 5,5 Millionen Einwohnern die führende Wintersportnation.

Sandbakk glaubt wie Meuwly, dass ein Schlüssel zum Erfolg und zur vollumfassenden Sportnation in einem offenen Austausch zwischen Sportlern, Trainern und/oder Wissenschaftlern aller Disziplinen liege.

Er sagt aber auch: Ein solch zentralisiertes System sei mit der föderalen Schweizer Struktur wohl kaum zu verwirklichen. Die Antwort von Ralph Stöckli, dem Chef de Mission an diesen Pariser Spielen, passt dazu: Stöckli hält den dezentralen Ansatz gerade für eine Stärke des Schweizer Sports. Die Schweiz also doch eine Sportnation?

Viel Leistung für wenig Geld

Dazu eine weitere Facette: der Verdienst. Der Medianlohn eines hiesigen Sportprofis der Sommersportarten betrug 2018 rund 40’000 Franken (neuere Zahlen existieren nicht). Die Lebensunterhaltskosten konnten damals nur 60 Prozent der Profis mit dem Verdienst aus dem Sport decken. Bei den vollangestellten Coaches von Sommersportarten belief sich der Medianlohn auf 72’000 Franken (Stand 2018) – 10’000 Franken weniger als der Medianlohn aller Vollzeitbeschäftigten in der Schweiz. Die Zahlen zeigen die relativ bescheidene Unterstützung für die besten Sportlerinnen des Landes und ihre Betreuer.

Zugleich hat die Schweiz im Spitzensport erstaunlich spät entdeckt, dass zwei Geschlechter existieren. Seit 1964 haben die Frauen erst an drei Spielen (Sydney 2000, Rio 2016, Tokio 2021) mehr Medaillen gewonnen als die Männer. Der Grund ist simpel: Eine umfassende Förderung fehlte lange und wirkte sich bis auf den Verdienst der Profitrainerinnen aus. Das Lohnniveau der Vollzeittrainerinnen befand sich 2018 auf dem Lohnniveau der Männer von 2010.

Die Situation mag sechs Jahre später allenfalls besser sein, offenbart jedoch: Die Schweiz hat nur schon im Elitebereich ordentlich zuzulegen, will sie dem Anspruch einer Sportnation in allen Bereichen gerecht werden.