Max Küng zieht es nach ParisDas Tollste an Olympia? Die Stadt!
Unser Kolumnist hegte Ressentiments gegenüber der französischen Hauptstadt – doch er hat seine Meinung revidiert.
Das Tolle an den Olympischen Spielen war auch: Es gab so viel Sport, dass die Fernsehanstalten gar nicht alles zu kommentieren imstande waren, was sie da in ihren Livestreams übertrugen, zum Beispiel Surfen im Aussenarrondissement Tahiti morgens um zwei hiesige Zeit. Livesport ohne Brüllkommentar ist ein wahrer, da purer Genuss – beim Wellenreiten kommt es luzidem Traumyoga gleich.
Aber am tollsten und wunderbarsten an Olympia war eindeutig: Paris! Die Stadt! Die Kulisse! Als wäre sie über die Jahrhunderte nur dafür gebaut worden, bei den Spielen 2024 eine gute Falle zu machen. Als ich am TV das Radrennen der Frauen schaute, die Fahrerinnen am Moulin Rouge vorbeiflitzten, die mit romantischen Brücken gespickte Seine das Ihrige tat, immer wieder im Hintergrund die bombastische Basilika Sacré-Cœur zu sehen war, da rief ich aus: «Heiliger Sack! So eine schöne Stadt, da muss ich hin! Ich buche gleich ein Ticket!» In viereinhalb Stunden wäre ich mit dem TGV dort. Bis mir in den Sinn kam, dass ich ja eben dort gewesen war, keine vier Wochen her, kurz vor Olympia, ich sah sogar noch eine Fackelträgerin, die träge trabend und von den Trottoirs aus beklatscht und bejubelt die olympische Flamme an der Place des Vosges vorbeitrug.
Paris schien mir bei meinem Besuch so gemütlich wie nie zuvor. Ich hegte in der Vergangenheit der französischen Hauptstadt gegenüber immer gewisse Ressentiments – und auf die selbsterfüllende Parisprophezeiung war Verlass, stets landete ich in dem Restaurant mit dem herablassendsten Kellner, vor dem Eiffelturm in der dicksten Warteschlange, im Taxi im längsten Stau an der Seine.
Heute fahren dort gar keine Autos mehr, es flanieren Menschen. Und was mir auch sehr gut gefiel: Es gibt keine Mietelektrotrottinetts, denn die wurden ja per Volksentscheid verboten. Was für eine kluge Trottoirentchaotisierung und Wohltat! Zudem weiträumig Tempo 30 und eine Ächtung von SUVs. Verkehrsplanerisch könnte sich die ein oder andere Stadt in der Schweiz eine Scheibe Baguette abschneiden.
Damals stand eine Kirche auf meinem touristischen Menüplan, keine der grossen und bekannten, sondern eine, die vis-à-vis der Kathedrale Notre-Dame ein Schattendasein fristet – und auch noch Armut im Namen trägt: die Kirche Saint-Julien-le-Pauvre. Ein unscheinbares Bauwerk, eine richtig graue Maus von Sakralbau. Hierhin verirren sich Touristen höchstens, um im kleinen Park zusammen mit den Tauben zu picknicken.
Ich kam jedoch aus einem ganz bestimmten Grund, der mehr als sechzig Jahre zurückliegt. Denn im Juni des Jahres 1963 nahm in dieser Kirche der Komponist Pierre Henry sein Stück «Variations pour une porte et un soupir» auf. Ein sehr konkretes Stück konkreter Musik in 25 Teilen, bei dem das Hauptinstrument die knarzende Kirchentüre ist, die mal laut ächzt, mal leise jammert, mal kurz knarzt, mal gedehnt knarrt. Eine alte Türe als Musikinstrument: Das war der radikal geniale Geist Frankreichs in den Sechzigerjahren! (Zum Reinhören auf zum Beispiel Spotify empfehle ich Variation 13: «Balancement 2».)
Und exakt diese Türe wollte ich schon immer einmal live hören und selber knarzen lassen. Doch ich hatte kein Glück. Sie war verschlossen. Die ganze Kirche war verrammelt, als wäre der Pfarrer in die Ferien nach Tahiti verdüst. Und die Pforte hat noch nicht einmal eine Türfalle, die vielleicht schlecht geölt einen kleinen Seufzer von sich gegeben hätte, sondern bloss ein Schlüsselloch. Ich bückte mich und schaute in das Loch, doch sosehr ich auch äugte, es war nichts zu hören.
Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».
Fehler gefunden?Jetzt melden.