Pharmahersteller sind alarmiertNovartis und Roche warnen vor einer «Krebs-Epidemie»
Die Corona-Welle könnte eine unerwartete Konsequenz haben: Krebserkrankungen würden nicht rechtzeitig entdeckt, sagen Vas Narasimhan und Severin Schwan.
Mitten in der Corona-Krise schreckt der Chef des Pharmakonzerns Novartis mit der Warnung vor einer Welle neuer Krebserkrankungen auf. Der Grund: Viele Vorsorgetests fallen aus, weil sich die Menschen nicht mehr in die Spitäler trauen oder diese Termine verschoben haben.
«Es gibt einen dramatischen Rückgang an Diagnosen von nicht übertragbaren Krankheiten», warnte Vas Narasimhan am Dienstag an einer Telefonkonferenz zu den Quartalszahlen des Pharmariesen. «Das darf so nicht weitergehen, wir dürfen eine solche zweite Epidemie nicht zulassen.»
«Gehen Sie wieder zum Arzt»
Auch Roche zeigt sich alarmiert. «Gehen Sie wieder zum Arzt» – so forderte jüngst ungewohnt offen Konzernchef Severin Schwan in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AWP auf. «Leider ist es auch nach mittlerweile vielen Monaten im Corona-Krisenmodus immer noch so, dass viele Patienten mit anderen schwerwiegenden Krankheiten sich wegen Covid-19 nicht trauen, ins Spital oder zum Arzt zu gehen.»
Das bereite ihm zunehmend Sorgen, sagte Schwan, «denn die meisten Menschen erkranken und sterben an anderen Krankheiten als an Covid-19». Und er warnte: «Das wird über die Zeit zu massiven medizinischen Konsequenzen führen.»
Novartis-Chef Vas Narasimhan beobachtet weltweit erst seit Ende September wieder bei Spitälern und Ärzten ein Konsultationsniveau wie zu Zeiten vor Corona. Dies allerdings auch nicht in allen Fachgebieten. Er gehe weiterhin von grossen Schwankungen aus, sagte er.
Der Appell erfolgt nicht aus purer Nächstenliebe: Roche und Novartis gehören zu den grössten Herstellern von Krebstherapien.
Für die Schweiz bestätigt die grösste private Klinikgruppe Hirslanden den Rückgang der Patienten mit anderen Krankheiten als Covid-19. «Während der Zeit des Lockdowns im Frühjahr hatten wir auf den Notfallstationen unserer Kliniken tatsächlich weniger Konsultationen – auch im Bereich potenziell lebensbedrohlicher Krankheitsbilder wie Schlaganfall oder Herzinfarkt», sagt ein Sprecher. Ebenso gebe es weniger Tumoroperationen.
Noch immer sei bei einigen Patientinnen und Patienten eine Zurückhaltung auszumachen, ein Spital aufzusuchen. «Gerade wegen der aktuell steigenden Covid-Fallzahlen ist generell darauf zu achten, dass es nicht zu einer medizinischen Unterversorgung kommt», sagt der Kliniksprecher.
Novartis-Chef Narasimhan geht davon aus, dass die Spitäler inzwischen den Normalbetrieb trotz zweiter Corona-Welle aufrechterhalten können. Diesmal dürften sie auch aus eigenen wirtschaftlichen Gründen die Behandlung anderer Patienten nicht zurückstellen. Und: Auch die Telemedizin sollte nun ausgebaut werden. Ärzte sollten Konsultationen auch digital durchführen, fordert Narasimhan.
Laut Bill Anderson, Chef der Pharmasparte von Roche, hat es zwar einen Aufholprozess gegeben, aber die Gesundheitssysteme weltweit seien weniger ausgelastet als in der Vor-Corona-Zeit. «Die jüngsten verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass die Gesundheitssysteme derzeit zu 85 bis 95 Prozent im Vergleich zu normalen Verläufen der Monate September und Oktober ausgelastet sind.»
Novartis verkauft schon jetzt weniger Krebstherapien
Der Appell von Roche und Novartis erfolgt nicht aus purer Nächstenliebe: Beide gehören zu den weltweit grössten Erforschern und Herstellern von Krebstherapien. Gehen die Menschen weniger zum Arzt oder ins Spital, spüren auch die Pharmahersteller das: Werden neue Krebsfälle und andere schwere Erkrankungen nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, bedeutet dies für sie ein Umsatzrisiko.
Bei Novartis legten die Gesamtumsätze im dritten Quartal mit plus 1 Prozent nur minimal zu. Der Absatz der Krebsmedikamente war sogar leicht rückläufig. Der Effekt ist laut Novartis nicht nur durch die Konkurrenz günstiger Nachahmer-Medikamente für frühere Bestseller Afinitor und Exjade zu erklären, sondern auch durch die Covid-19-Pandemie.
Fehler gefunden?Jetzt melden.