Historiker und BuchautorNiemand kennt die Sihl so gut wie er
Die Sihl war Kriegsschauplatz, sorgte für einen Wirtschaftsboom und sah einst ganz anders aus. Jean-Daniel Blanc blickt mit seinem Buch auf diese Zeiten zurück.
Die Lockdowns und Einschränkungen der letzten zwei Jahre kamen ihm gerade gelegen. Jean-Daniel Blanc konnte sich voll auf sein grosses Projekt konzentrieren: ein Buch über die Sihl zu schreiben. Was hat der Fluss mit den Menschen gemacht – und was die Menschen mit dem Fluss? Blanc zeigt es auf 250 Seiten auf; mit Text, historischen Karten und viel Bildmaterial. Etwas Vergleichbares hat es zum Thema Sihl bisher nicht gegeben.
Blanc ist promovierter Historiker. Für sein Werk hat der Mann aus Affoltern am Albis zig Bücher, Schriften und Archive durchforstet – und war mit der Kamera Dutzende Male an der Sihl unterwegs: von deren Quellgebiet in den Schwyzer Voralpen bis zum Zürcher Platzspitz, wo der Fluss in die Limmat mündet.
Umkämpfte Brücke
«Ich bin zwar in Wollishofen in der Nähe der Sihl aufgewachsen», erzählt Blanc, «aber ein besonderes Interesse für den Fluss hatte ich lange nicht.» Das änderte sich im Mai 1999 schlagartig. Blanc war gerade in eine Siedlung an der Limmat gezügelt, als es zu einem grossen Hochwasser kam. Der Fluss war braun verfärbt und führte tonnenweise Baumstämme mit, die aus der Sihl zugeflossen waren. «Da wurde mir die wilde Seite der Sihl bewusst.»
69 Kilometer lang ist das Gewässer. Es verbindet Unteriberg und Zürich; zwei Orte, die politisch nicht gegensätzlicher sein könnten. Politisch und religiös motiviert waren auch viele Auseinandersetzungen, die sich im Sihltal zwischen Schindellegi und Sihlbrugg ereigneten. «Nichts erinnert daran, dass hier zwischen den rivalisierenden Mächten Zürich und Schwyz während vier Jahrhunderten immer wieder Kriege ausgetragen wurden», schreibt der Historiker in einem von elf Buchkapiteln.
Umkämpft war dabei auch oft der Flussübergang in Sihlbrugg Richtung Hirzel. Um die dortige Brücke kümmerten sich Zürich und Zug zwar gemeinsam. Aber nur solange man es gut miteinander hatte. Im Sonderbundskrieg 1847 etwa liessen die Zuger die Brücke niederbrennen. Doch wenig später baute man zusammen wieder eine neue, gedeckte Holzbrücke auf. Diese existiert heute noch. Allerdings wurde sie im Jahr 1960 drei Kilometer flussaufwärts verschoben, nachdem in Sihlbrugg die heutige Betonbrücke entstanden ist.
Sprung am Sihlsprung
Dem Ort Sihlbrugg, wo «das Thema Auto rund um den Kreisel mit grosser Konsequenz inszeniert wird», widmet Blanc ein ganzes Kapitel. Ebenso dem Sihlwald. Oder dem Moränental zwischen Schindellegi und Sihlbrugg. Nirgends habe man «mehr das Gefühl, im eigentlichen Sihltal zu sein, als hier», schreibt Blanc zu Letzterem. In jenem Gebiet befinden sich über hundert Trinkwasserquellen, die der Stadt Zürich gehören. Jean-Daniel Blanc kennt sie bestens. Vor seiner Pensionierung 2019 arbeitete er als Personalchef und Liegenschaftenverantwortlicher bei der Zürcher Wasserversorgung.
Gebaut wurden die Quellen und Leitungen vor mehr als 120 Jahren. «Dazu musste das Gebiet aber erst einmal mit Wegen erschlossen werden.» Noch heute zeugen die Wanderwege, niedrigen Fussgängertunnel und der Steg davon. Sie befinden sich beim Sihlsprung, also in jenem Abschnitt, wo die Sihl ein felsiges Tobel durchfliesst.
Thematisiert wird auch das Wort Sihlsprung selbst. Die Bezeichnung ist speziell, denn weder entspringt die Sihl an jenem Ort unterhalb des Hirzels, noch findet sich dort ein Wasserfall. Angenommen wird, dass er Sihlsprung heisst, weil der Fluss hier früher «mit einem beherzten Sprung überquert werden konnte», sagt der Historiker. Ob dies aber nur ein Mythos ist, weiss selbst er nicht.
Mit voller Wucht verändert
Sicher ist sich Jean-Daniel Blanc hingegen, dass die Sihl für die Menschen im Tal früher eine enorme Bedeutung hatte. Zum einen wegen der Hochwassergefahr. Erst mit dem Bau des Stauseedamms bei Einsiedeln im Jahr 1937 sei die Angst davor praktisch verschwunden. Wobei: Heute sei man sich der Gefahr wieder bewusst, wie der Bau des Hochwasser-Entlastungsstollens beweise.
Zum andern hat der Fluss im frühen 19. Jahrhundert einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht. Die Bevölkerungszahl wuchs um ein Vielfaches. «Die Industrialisierung brach mit aller Wucht in das wenig erschlossene Tal ein und veränderte seine Strukturen und sein Aussehen vollständig», hält Blanc fest. Reihenweise Spinnereien und Webereien entstanden, deren Maschinen mit Wasserkraft betrieben wurden. Gebaut wurden deshalb auch Dutzende Sihl-Seitenkanäle, auf dem ganzen Abschnitt von Sihlwald bis Zürich.
Die Kanäle sind fast alle wieder verschwunden. Letzte Zeugen der «industriellen» Sihl seien aber ihre Schwellen, schreibt Blanc: «Überall, wo heute das Wasser rauscht, stand früher ein Wehr zur Ableitung des Wassers in einen Kanal.» Auch viele Fabrikgebäude sind weg. Geblieben ist die Spinnerei Langnau – zwischen Sihl und Bahnhof –, die heute gewerblich genutzt wird. Gut erkennbar ist auch noch die einstige Weberei in Adliswil.
Hinter dem Lidl versteckt
In Gattikon weise hingegen fast nichts mehr auf die industrielle Vergangenheit hin, «obwohl sie hier begonnen hat». Die Reste der Weberei Gattikon – sie war schweizweit die erste Fabrik mit einem Sheddach – wirkten heute «kläglich verborgen» hinter einer Lidl-Filiale, findet Blanc.
Der Historiker bedauert, dass viele Spuren aus jener Zeit längst verschwunden sind. «Für das Sihltal und seine Bevölkerung wäre es schön, existierten heute noch mehr historische Bauten.» Denn sie förderten das Verständnis für die Geschichte der Sihl. Mit seinem Buch trägt Jean-Daniel Blanc nun selbst zu diesem Verständnis bei.
«Die wilde und die zahme Sihl» von Jean-Daniel Blanc, erschienen im Verlag Hier und Jetzt, erhältlich für 44 Franken.
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