Vorwurf wegen Endlager-StandortHat die Nagra politisch entschieden?
Kritiker sagen, die Wahl von Nördlich Lägern sei nicht primär wissenschaftlich begründet. Dagegen sagt der Nagra-Chef: «Die Geologie hat entschieden.» Experten pflichten ihm nun bei.

Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) ist ihrer Sache absolut sicher. «Es ist ein eindeutiger Entscheid, die Geologie hat gesprochen», sagte Matthias Braun heute an der Medienkonferenz der Nagra. Nördlich Lägern sei der Standort für ein Tiefenlager mit den grössten Sicherheitsreserven.
Die Wahl der Nagra kommt für viele überraschend, weil die Genossenschaft diesen Standort vor gut sieben Jahren vor allem aus bautechnischen Gründen aus der engeren Wahl gestrichen hatte. Erst als die Aufsicht der Nagra, das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi), zusätzliche technisch-wissenschaftliche Unterlagen zum Auswahlverfahren verlangte und die Expertengruppe der betroffenen Kantone intervenierte, kam Nördlich Lägern neben Jura Ost am Bözberg und Zürich Nordost im Weinland wieder auf die Liste möglicher Standorte. «Die Nagra hat die Möglichkeiten der Bautechnik damals unterschätzt», sagt Thomas Flüeler, Bereichsleiter Kerntechnik bei der Baudirektion des Kantons Zürich. Die Experten der Kantone wollten deshalb, dass die Nagra Nördlich Lägern nochmals einschlägig untersuche.

Nördlich Lägern im Zürcher Unterland befindet sich am Rand des sogenannten Permokarbontrogs, der sich mächtig durch die Nordschweiz zieht. Dieser mehrere Kilometer tiefe, mit Sedimenten gefüllte Trog wurde während der Alpenbildung durch den Gesteinsdruck vom Süden arg beansprucht. Die Nagra war der Ansicht, dass das Tiefenlager tiefer als die bevorzugte Tiefe von 700 Metern hätte gebaut werden müssen, um die tektonische Störung zu umgehen. Je tiefer das Endlager zu liegen kommt, desto grösser ist das Risiko, die abdichtende Schicht des Opalinustons bei dessen Bau zu verletzen. In der bevorzugten Tiefe, so die Nagra damals, sei die Fläche für ein Lager zu klein.
Die rund 100 bis 150 Meter dicke Gesteinsschicht ist die wichtigste natürliche Barriere im Konzept des Tiefenlagers, damit keine radioaktiven Stoffe in die Umgebung gelangen. Die Tonmineralien des Opalinustons quellen bei Kontakt mit Gebirgswasser auf, Risse werden dabei von selbst abgedichtet. So entstehen keine Wasserwege entlang des Stollens. Zudem können sie radioaktive Teilchen binden. Der CEO der Nagra, Matthias Braun, sieht es so: «Wir haben damals die vorhandenen geologischen Daten auf die Tiefe projiziert und waren wohl zu vorsichtig.»

Das Tiefenlager soll bis eine Million Jahre dicht bleiben. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass bei der nächsten Eiszeit die vorstossenden Gletscher die Oberfläche Hunderte Meter tief ausgraben. Das Tiefenlager muss also entsprechend tief gebaut werden, sodass die Gesteinsüberdeckung über dem schützenden Opalinuston mächtig genug bleibt, damit der Ton nicht seine dichtende Wirkung verliert.
Damals lagen vor allem 2-D-seismische Messungen und die Resultate weniger Tiefbohrungen vor. Inzwischen verfügt die Nagra über detailliertere Daten zur Geologie des Untergrundes durch zusätzliche 3-D-seismische Untersuchungen und weitere neun Tiefenbohrungen. «Die Nagra hat einen enormen zusätzlichen Aufwand betrieben», sagt Thomas Flüeler von der Zürcher Baudirektion.
Spricht man mit Experten, so zeichnete sich eigentlich bereits damals ab, dass Nördlich Lägern von den drei möglichen Standorten die beste Variante ist. Doch worin bestehen die Unterschiede zwischen Nördlich Lägern und den beiden anderen Standorten gemäss den Daten der Nagra?
Im Opalinuston hat die Nagra Spuren von Millionen Jahre altem Wasser gefunden. In den Schichten von Nördlich Lägern hat man das älteste Wasser entdeckt. Das zeigt, dass die Tonschichten über Millionen Jahre dicht sind.
Für die Sicherheit des Endlagers ist auch bedeutend, wie die Wasser führenden Gesteinsschichten ober- und unterhalb des Opalinuston-Wirtsgesteins verlaufen. Je grösser die Distanz zum Wirtsgestein, desto besser. Nördlich Lägern weist die grössten Distanzen aus.
Das gilt auch für die Erosionstiefe. Flüsse und Gletscher prägen die Erdoberfläche. Da das Lager bis eine Million Jahre dicht sein muss, müssen die Wissenschaftler abschätzen, wie tief sich ein Gletscher während der nächsten Kaltzeit in die Tiefe gräbt. Da das Tiefenlager in Nördlich Lägern in einer Tiefe von etwa 900 Metern gebaut werden soll, ist es im Vergleich zu den anderen Standorten am besten vor erosiven Prozessen geschützt.
Unter anderem aus diesen Gründen finden die Wissenschaftler in Nördlich Lägern im Untergrund den grössten ungestörten und stabilen Raum im Opalinuston.
«Wir haben viel gelernt», sagt Nagra-Chef Matthias Braun. Die neuen Daten würden zeigen, dass die Festigkeit des Opalinustons doppelt so gut sei, als zuvor die Nagra eingeschätzt habe. Die Realisierung des Tiefenlagers sei nach heutigen Kenntnissen «bautechnisch beherrschbar», sagt auch Flüeler. Nördlich Lägern soll nun sogar Platz für ein Kombilager bieten. Das heisst: Der hochaktive Abfall (HAA) und die schwach- und mittelaktiven Abfälle (SMA) sollen im gleichen Lager, aber in getrennten Lagerräumen deponiert werden. Ein Kombilager kann von der Nagra nur vorgeschlagen werden, falls die Platzierung des HAA- und SMA-Lagers im gleichen Standortgebiet sicherheitstechnische Vorteile ergibt, schreibt das Ensi.

Der Vorwurf, die Nagra habe in den letzten Jahren die Kriterien für die Standortwahl verändert, sei falsch. Es seien nach wie vor die 13 sicherheitstechnischen Kriterien angewendet worden, wie sie im Sachplan zum Tiefenlager festgelegt seien.
«Nagra heute offener»
Die Kritik reisst trotzdem nicht ab. Der Verein Nördlich Lägern ohne Tiefenlager (Loti) schreibt, die erschwerten Bedingungen für die Bautechnik hätten damals den Ausschlag für die Rückstellung von Nördlich Lägern gegeben. Es sei nun deshalb «unglaubwürdig», diese Tiefe als Vorteil für künftige Eiszeiten «umzudeuten».
Bereits im Vorfeld der Medienkonferenz ist deshalb der Vorwurf laut geworden, die Nagra habe bei ihrer Wahl von Nördlich Lägern nicht primär wissenschaftlich, sondern politisch entschieden. Dies, weil es in der Bevölkerung dort im Gegensatz zum Weinland deutlich weniger Widerstand gebe.
Der Vorwurf ist nicht neu: Die Nagra, finanziert von den AKW-Betreibern, agiere politisch. An der Medienkonferenz wurde dieser Vorwurf dementiert – vom grünen Regierungsrat Martin Neukom. Der Zürcher Baudirektor präsidiert den Ausschuss der Kantone (ADK), jenes kantonale Gremium im Sachplan geologische Tiefenlager, das sich aus Regierungsvertretern der Kantone Aargau, Thurgau, Schaffhausen und Zürich zusammensetzt.
Neukom erklärte, die ADK habe verschiedene Fachgremien kontaktiert, darunter die Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone und die Kantonale Expertengruppe Sicherheit. «Ich hatte ein langes Treffen mit diesen beiden Gruppen», sagte Neukom. Und machte klar, dass die Rückmeldung dieser Experten deutlich war: «Nach allem, was wir beurteilen können, arbeitet die Nagra wissenschaftlich.» Die Nagra sei heute viel offener als früher, die Sicherheitskultur habe sich «deutlich gebessert». Und: «Die Nagra hört uns zu.» Das sei eine ganz wichtige Bedingung für einen Fachstreit.
Neukom attestierte der Nagra, lernfähig zu sein. Und er betonte, dass Fundamentalopposition gegen ein Tiefenlager aus seiner Sicht verfehlt sei. Er selber sei ein «Kritiker» der Kernkraft. Doch ob man nun die Kernkraft befürworte oder ihr kritisch oder ablehnend gegenüberstehe, «für die Lagerung der Abfälle spielt das keine Rolle». Die Schweiz habe sich vor langer Zeit entschieden, die Atomtechnologie zu nutzen. «Heute haben wir den Abfall. Jetzt ist es zentral, dass wir Verantwortung tragen.» Es gelte, den Abfall nach bestem Wissen und Gewissen so sicher wie möglich zu lagern. «Man kann nicht wirklich gegen die Lagerung sein.» Weil der Abfall sowieso gelagert werde, aktuell im Zwischenlager in Würenlingen.
Noch ist allerdings der Standort Nördlich Lägern die Wahl der Nagra. Es liegt nun an der Aufsicht der Nagra, dem Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) , die wissenschaftliche Begründung der Standortwahl zu prüfen. Dazu wird ein internationales Expertenteam beigezogen.
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