Sportschützin Nina ChristenNeun Zehner in Serie – mit Nervenstärke zu Gold
Je enger es wird, desto stärker ist sie: Eine Woche nach Bronze mit dem Luftgewehr gewinnt Nina Christen nun den Titel im Kleinkaliber-Dreistellungsmatch.
Als Fünfte ging Nina Christen ins abschliessende Stehendschiessen, wenn ihr der letzte Schuss im Liegendschiessen besser gelungen wäre, hätte die Ausgangslage gar noch besser ausgesehen. Stehend ist aber die Paradedisziplin der Nidwaldnerin, und so schien alles noch möglich. Einmal mehr bewies sie Nervenstärke in jenen Momenten, in denen es am meisten zählt.
Wer sich den Modus für die Schlussphase ausgedacht hat, hat gehobenen Sinn für Drama. Nach zwei Fünferserien müssen die beiden Letzten der Zwischenrangliste ihre Waffen versorgen, nach jedem weiteren Schuss trifft es eine weitere Konkurrentin. Bis am Schluss nur noch zwei übrig bleiben. Diejenigen, die im Wettkampf verbleiben, dürfen kein Mitleid zeigen. Sie wissen: Ein Fehlschuss, und dann trifft es sie.
Fokus an, Fokus wieder weg
Fokus an, Fokus wieder weg. Es sind jene Sequenzen, die Sportschützinnen und Sportschützen ein Leben lang beschäftigen. Nie sind sie so wichtig wie in einem Olympiafinal. Und keine konnte das so gut wie Nina Christen: Während Julia Zikowa, die Qualifikationserste und bislang Führende, zunehmend Nerven zeigte, hielt die Innerschweizerin ihr Niveau. Kurz vor Schluss holte sie mit einem Schuss 1,8 Punkte auf – beide waren nun gleichauf. Nicht lange, Christen zog im Expresstempo davon: 0,1 Punkte Vorsprung waren es nach dem nächsten Schuss, dann 1,1, 1,3, schliesslich 2,0. Und dann konnte sie jubeln.
Bald hatte sie Tränen in den Augen, und in der Schiessszene wohl nicht nur sie. «Es ist unglaublich, was sie in dieser Woche geleistet hat», sagt Luca Filippini kurz nach dem Wettkampf. Der Tessiner ist Präsident des Schweizer Schiesssport-Verbands und hat natürlich den ganzen Wettkampf mitgelitten: «Ich habe es noch gar nicht richtig realisiert. Es ist wunderschön für den Verband, für die ganze Schützenfamilie und vor allem für Nina. Sie hat für ihren Traum als Elitesportlerin so viel investiert.»
Nina Christen hat damit vollendet, was sie schon vor fünf Jahren angedeutet hatte. 2016 hatte die Wolfenschiesserin, die in Immensee im Kanton Schwyz lebt, in Rio bei ihrer Olympiapremiere im Kleinkaliber-Dreistellungsmatch Platz 6 belegt, was neben der Bronzemedaille von Heidi Diethelm Gerber etwas unterging. Dabei verblüffte sie im Final: Als Nummer 89 der Welt hatte sie nach dem Kniend-Schiessen sogar auf Goldkurs gelegen.
Diesmal war die Ausgangslage eine andere, die Finalqualifikation hatte sie sich frühmorgens aber auch dank grosser Nervenstärke gesichert: Nach vergleichsweise bescheidenem Auftakt in der Kniend-Position (388 Punkte) steigerte sie sich in der Liegend-Stellung (394). Im abschliessenden Stehendschiessen überzeugte sie am meisten – in der letzten Serie gelangen ihr am Schluss sogar neun Zehner in Serie.
Die Professionalität in Magglingen
Völlig unerwartet kam der Sieg nicht. Christen hatte sich in den letzten Jahren kontinuierlich gesteigert und schon vor Tokio mehrfach Edelmetall geholt: 2014 Silber an der Junioren-WM, 2019 EM-Gold mit dem Kleinkaliber und Silber mit dem Luftgewehr, in jenem Jahr landete sie auch ihren ersten Weltcup-Sieg und gewann Gold an den European Games.
Matchentscheidend war für sie wohl der Sprung zu professionelleren Bedingungen: Im Oktober 2016 hatte sie einen der drei Ausbildungsplätze am neu eröffneten Nationalen Leistungszentrum in Magglingen erhalten – dafür brach sie sogar ihr Biologiestudium ab, das sie unmittelbar vorher aufgenommen hatte. Christen absolvierte auch die Spitzensport-RS und ist heute in einem 50-Prozent-Pensum bei der Armee angestellt.
Sie lebt und trainiert in Magglingen in bescheidenen Verhältnissen und ordnet alles dem Sport unter. Wenn aber einmal etwas freie Zeit bleibt, geniesst sie trotz aller Askese das Leben. Tanzen zählt zu ihren Hobbys, sie bewegt sich vorzugsweise zu Hip-Hop- oder Streetdance-Klängen.
Die Armeeanstellung gibt ihr eine gewisse finanzielle Sicherheit: In den Wochen vor Rio hatte sie ihr bescheidenes Einkommen noch aufgebessert, indem sie putzen ging. Fünf Jahre später ist sie nicht nur eine von sechs Schweizerinnen, die Gold an Sommerspielen gewonnen haben, sondern auch die erfolgreichste Schützin der Schweizer Olympia-Geschichte – mit zwei von drei Medaillen.
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