Tabuthema am Mount EverestEin Team holt Leichen vom Berg – die Gründe sind teils heuchlerisch
Rund 330 Menschen sind am höchsten Berg der Welt über die Jahre gestorben. Was passiert mit ihnen? Einblick in eine kaum bekannte Seite des Everest-Business.
Als im April ein Team von 13 nepalesischen Militärs zum Mount Everest aufbrach, titelten die einheimischen Zeitungen bloss: «Start zur Aufräum-Kampagne von 2024». Rund zehn Tonnen Abfall soll es vom höchsten Berg der Welt und den benachbarten Lhotse und Nuptse runterholen.
Maximal in Nebensätzen kam die zweite Facette dieser Aufräumaktion in den Texten vor: Die Männer sollen den höchsten Berg der Welt auch von Leichen säubern.
Dass darüber kaum berichtet wurde, ist kein Zufall. In diesen nun 100 Jahren an Besteigungsversuchen sind rund 330 Menschen gestorben, bei gut 28’000 Personen, die zum Gipfel aufbrachen. Über die Faszination des Giganten reden alle gerne, über die Folgen des Sterbens nicht (Details zum Thema: Stürze, Staus und Eiseskälte: Was die Everest-Besteigung so tödlich macht).
Fakt bleibt: Die meisten Toten liegen noch immer am Berg, prozentual am meisten auf den letzten 300 Höhenmetern in der sogenannten Todeszone, die ab 8000 m definiert wird.
Am Spezialteam ist es nun, fünf der Toten vom Berg zu holen. Das hat die Equipe dem US-Magazin «Outside Magazine» erzählt – und immerhin ein wenig über die Lage dieser Toten sowie die Gründe gesprochen.
Es handelt sich um Leichen hoch in der Todeszone an neuralgischen Stellen. Oder wie es im Text heisst: «in relativer Nähe zur Route». Wissen muss man dazu, dass eine Standardroute mit eingerichtetem Fixseil auf den Everest führt – exakt ein Seil pro gefährlichem Abschnitt. An dieses Seil hängen sich die Hobby-Bergsteiger (und ihre Führer) ein.
«In relativer Nähe zur Route» ist mitunter sehr beschönigend. Ein toter Inder hängt seit 2019 am damals gelegten alten Fixseil unter der Hillary-Felsplatte auf rund 8700 m. An dieser Stelle müssen alle vorbei, die von nepalesischer Seite hochwollen. Der Tiroler Expeditionsleiter Lukas Furtenbach hat mit dieser Redaktion auch darüber geredet – und erzählt, dass über den Toten gestiegen werden muss (Lesen Sie dazu das Interview: Sogar auf 8000 m muss er sich noch vor Dieben schützen).
Über Leichen gehen ist am Everest darum keine Metapher und eine Situation, die Nepal nicht haben will. Es generiert dank der Everest-Industrie Millionen pro Jahr, das soll so bleiben. Darum müssen Leichen wie dieser tote Inder verschwinden. Einerseits aus Sicherheitsgründen, er behindert die Route, andererseits aus moralischen Bedenken.
Nepals Innenminister sagte dem «Outside Magazine» dazu: «Wir wollen den aktuellen Bergsteigern keine Schwierigkeiten bereiten. Zudem sind wir besorgt, was sie sehen.» Das ist sie wieder, diese Tabuisierung der Toten.
Dazu passt ein Abschnitt im Text der bestdokumentierten Bergung eines Toten am Everest. Es handelt sich um eine äusserst aufwendige Multimedia-Reportage der «New York Times» von 2017. Die Crew war auch darum angehalten, in der Nacht die Leiche von Schnee und Eis zu befreien, damit Besteiger davon möglichst wenig mitbekamen.
Dieser Inder starb auf rund 8300 m und wie der zuvor erwähnte Inder am Fixseil. Dokumentiert ist, dass sich an den Folgetagen mindestens 27 Bergsteiger an dieser Stelle aus dem Fixseil ausklinkten, weil sie um ihn herumgehen mussten. Dann klinkten sie sich wieder ein – beim Auf- wie Abstieg. Bei keinem dieser Gipfelstürmer waren die moralischen Bedenken so überwältigend, dass sie sich das «Dach der Welt» von einem Toten nehmen lassen wollten.
Wenn Nepals Aufräumer darum mit Ethik am Berg argumentieren, wirkt das in Teilen scheinheilig. Dasselbe Nepal reguliert das Geschäft mit dem Everest kaum und lässt zu, dass noch der grösste Novize hoch auf den Berg darf. Da sind Tote, im letzten Jahr die Rekordzahl von 18, praktisch garantiert.
Noch ist es diese Saison relativ ruhig. Nun aber sind zwei vermisste Mongolen tot gefunden worden. Und das Zeitfenster schliesst sich, die Winde sind extrem – kein guter Mix für die unter Druck stehenden kommerziellen Expeditionen. 50 Gipfelaspiranten versuchten es trotzdem Mitte Woche, mussten aber umkehren. Die Episode verdeutlicht die Nervosität am Berg.
Hitzewallungen vor dem Tod
Dass wiederum die grosse Mehrheit der Verstorbenen am Everest bleibt, hat verschiedene Gründe, einer davon ist zentral: Der Aufwand ist gross, das Risiko hoch. Fünf Männer – es bleibt primär eine Männerwelt an diesen höchsten Bergen – braucht es ungefähr, um einen Toten zu bergen.
Dazu muss er oft erst von Schnee oder Eis in stundenlanger Arbeit in extremen Höhen befreit werden. Erschwerend kommt hinzu: Die Toten, im finalen Moment oft von imaginären Hitzewallungen geplagt, weshalb sie sich ausziehen, sind teils grob verrenkt – und in dieser Position festgefroren.
Es verkompliziert ihren Transport, man will ihre Körper ja nicht noch schädigen. Die Fachkräfte müssen sich zudem an den Anblick der Toten gewöhnen: In dieser extremen Höhe, auch von Wind, Sonne, Schnee geprägt, mumifiziert der Körper. Entsprechend sehen die Leichen aus.
Weil sie so schwer sind, werden sie angeseilt meist auf einer Unterlage runtergeschoben, gestossen, gerutscht. Alle fünf Leichen der 2024er-Räumung sollen im Camp auf 8000 m zwischengelagert und dann in einem nächsten Schritt die steile Lhotse-Flanke runtergehievt werden – ehe ein Helikopter sie auf 6000 m abholt. Er kann zwar höher fliegen, aber keine so schweren Lasten transportieren.
Geld gegen Körper
Dass Everest-Leichen runtergebracht werden, liegt auch am Wunsch der Angehörigen. Sie hoffen, allenfalls anhand von Fotoaufnahmen mehr über die Todesumstände zu erfahren. Manchen Hinterbliebenen hilft es, besser Abschied nehmen und loslassen zu können.
Auch sehr irdische Facetten spielen hinein, wie die «New York Times» in ihrer Reportage darlegt: Erst nach sieben Jahren gilt ein Vermisster in Indien als tot – und erhält die Familie dann Zugriff auf etwaige Bankkonten. Kann hingegen ein Körper vorgewiesen werden, folgt der Zugriff sofort.
Circa 75’000 US-Dollar kostet die Bergung einer Leiche, ähnlich viel wie eine Everest-Expedition. Gemäss der neuen Regel der nepalesischen Regierung müsste jeder kommerzielle Anbieter die Toten ab 2025 selber runterbringen. So gut wie alle Insider gehen aber davon aus, dass auch diese Regel bloss auf dem Papier greifen wird.
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