Landung auf dem Mond«Siegesschrei eines neuen Indien»
Die Mission Chandrayaan-3 beflügelt den Nationalstolz in Indien enorm. Doch ist das nicht das einzige Motiv für Premierminister Modi, das Weltraumprogramm seines Landes zu forcieren.
Ein europäischer Diplomat hat es einmal so formuliert: «Wann immer die Inder eine Mission durchführen, sind sie meistens spitze. Aber im Alltagsmodus, wenn es um die Mühsal der Ebene geht – da bin ich nicht so sicher.» Zumindest für die erste Hälfte der Einschätzung hat das bevölkerungsreichste Land der Welt in dieser Woche einen eindrücklichen Beleg geliefert: Indien landete am Mittwoch seine unbemannte Sonde Chandrayaan-3 auf dem schwer zugänglichen Südpol des Mondes.
«Berge des ewigen Lichts» haben Forscher einst die gebirgige Kraterlandschaft des Mondes genannt. Ein kleiner Rover namens Pragyan (Weisheit in Sanskrit) erkundet dort seither die Oberfläche, sammelt Daten in einem extraterrestrischen Terrain, an das noch nie jemand zuvor herangekommen ist.
Die Riesennation, ja die ganze Welt, blickt auf den Triumph indischer Raumfahrttechnik. Und das ist – abgesehen vom generellen Gewinn für Wissenschaft und Technik – auch ein Booster für den indischen Nationalstolz. In Zeitungen und Fernsehsendern wurde diese Befindlichkeit immer und immer wieder in einen einzelnen Satz gegossen: «India is over the Moon.» Ein Land, ergriffen von grösster Glückseligkeit.
Der Blick ins All lenkt ab von der irdischen Zerrissenheit, die Indiens Gesellschaft plagt.
Den Erfolg der Mission Chandrayaan-3 hat sich Indien durch Fleiss und technische Expertise hart erarbeitet. Politisch bedeutsam ist er, weil er zum einen den Grossmachtanspruch Indiens untermauert. Zum anderen zählt die Landung aber auch zu jenen – eher seltenen – Ereignissen, die ein grosses Mass an Einigkeit erzeugen. Der Blick ins All lenkt ab von der irdischen Zerrissenheit, die Indiens Gesellschaft plagt.
Da ist die immense Arbeitslosigkeit, die Millionen Inder – und deren Familien – drückt. Indien ist ein dynamisches Land, aber bisher reicht das Wachstum nicht aus, um alle mitzunehmen in eine bessere Zukunft. Hinzu kommt der Klimawandel mit seinen extremen Wetterphänomenen. Er erschwert das Leben auf einem Subkontinent, der schon ohne Erderwärmung mit erheblichen Wetterrisiken durch den Monsun zu kämpfen hat. Und da sind schliesslich jene Verwerfungen, die mit dem Aufstieg des Hindu-Nationalismus zu tun haben.
Heilsversprechen nationaler Grösse
Die politisch forcierte Dominanz der Hindu-Mehrheit stösst religiöse Minderheiten vor den Kopf, allen voran die Muslime. Spannungen zwischen den Religionen haben eine lange Geschichte in Indien. Aber unter der hindu-nationalistischen Regierung von Premier Narendra Modi haben sie enorm zugenommen.
Hindu-Eiferer fühlen sich seit Jahren ermuntert. Sie kämpfen für einen Staat, der mit den pluralistischen Prinzipien des säkularen Gemeinwesens nichts mehr zu tun hat, als das die Republik Indien gegründet wurde. Sie wollen eine Hindu-Nation. (Lesen Sie zum Thema auch die Artikel «Heute ist es ruhig, und morgen schon kann die Gewalt eskalieren» und «Bewaffnete Mobs wüten in Manipur».)
Das alles ist jetzt für einen kurzen Moment ausgeblendet. Für den Erfolg von Chandrayaan-3 haben Muslime in Moscheen gebetet, Hindus und Sikhs in Tempeln, Christen in Kirchen. Es waren teils rührende Szenen, die für einen Augenblick vergessen liessen, dass hinter den Emotionen auch handfeste indische Interessen stecken. Die haben zunächst einmal eine innenpolitische Dimension. Modi möchte die Erfolge im All gerne im Wahlkampf für seine Partei BJP nutzen. Das Heilsversprechen nationaler Grösse ist ein Leitmotiv, das Modi in die Hände spielt. Modi ist Nationalist und Populist – und er setzt darauf, dass er 2024 nochmals siegt.
Im Moment des indischen Triumphs bezeichnete Modi die Mondlandung als «Siegesschrei eines neuen Indien». Der Vorstoss zum Mond zeigt – über wahltaktisches Kalkül hinaus – aber auch ein langfristiges Interesse an der Raumfahrt in einem Land, das sich geopolitisch längst unter den führenden Nationen der Welt verortet. Das Weltraumprogramm ist so gut wie unumstritten. Es herrscht ein breiter Konsens, weit über Parteigrenzen hinaus, dass Indien eine Raumfahrernation sein muss.
Der Erfolg der Mondmission wird den Ehrgeiz weiter befeuern. Indien baut die kommerzielle Raumfahrt stark aus.
Dass dieser Konsens sich weiter verfestigt, mag auch am grossen Nachbarn Indiens im Nordosten liegen. China wird als Rivale wahrgenommen, der Indiens Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt. Nicht nur die blutigen Grenzstreitigkeiten im Himalaja rufen den Indern schmerzhaft in Erinnerung, dass China auf Expansionskurs ist. Dabei sieht sich Indien selbst als aufsteigende Grossmacht, die Ambitionen im All passen dazu. Keinesfalls will es im Wettlauf zurückstecken.
Der Erfolg der jüngsten Mondmission wird den Ehrgeiz weiter befeuern. Indien baut die kommerzielle Raumfahrt stark aus. Dass Indien Satelliten besonders günstig ins All schiesst, macht das Land unter Wettbewerbern attraktiv. Beobachter in Delhi betrachten die Raumfahrt unterdessen nicht nur unter wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern explizit auch als Werkzeug der Geopolitik.
Indien will eigene Astronauten ins All schiessen
Jetzt, da Indien triumphiert und Russland mit seiner Mondmission gescheitert ist, gilt die Mondmission als bedeutsame Wegmarke: Die Zeit ist reif für Indien, einen vorderen Platz im Weltall zu beanspruchen. Dazu gehört, dass Indien der Raumfahrt zunehmend militärische Bedeutung beimisst. Der Trend wird ebenfalls durch die Rivalität mit China befeuert. Umgekehrt begünstigt dies eine Allianz mit den USA: Delhi und Washington wollen bei Weltraummissionen künftig enger zusammenarbeiten.
Und wann wird Indien selbst Astronauten ins All schiessen? Der Luftwaffenpilot Rakesh Sharma flog schon 1984 in den Orbit, an Bord des russischen Sojus-T-11-Raumschiffs. Inzwischen gibt es ein prestigeträchtiges Programm, drei Astronauten in einer eigenen Mission ins All hinauszuschicken. Die Raumkapsel heisst Gaganyaan, Himmelsfahrzeug auf Sanskrit. Für den ersten bemannten Flug gibt es noch kein Datum. Doch die Mondlandung dürfte dem Vorhaben neuen Schub verleihen.
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