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Ethnischer Konflikt in Indien
«Heute ist es ruhig, und morgen schon kann die Gewalt eskalieren»

Heftige Unruhen erschüttern den Distrikt Nuh: In Ahmedabad demonstrieren Anhänger der Hindu-Organisationen Vishwa Hindu Parishad und Bajrang Dal.
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Manchmal ist es schwer, herauszufinden, wie alles begonnen hat. Einige sagen, es waren Kinder. Andere sagen, es waren Erwachsene, die Kinder als ihre Handlanger missbraucht haben. Kleine Hände, die Steine schmeissen, bis es eskaliert. Vielleicht hat es so angefangen, 80 Kilometer südlich von Delhi, im indischen Distrikt Nuh.

Gewalt hat sich von dort in dieser Woche wie ein Lauffeuer im indischen Bundesstaat Haryana verbreitet, selbst Gurgaon wurde erfasst, ein Business-Hub, wo auch ausländische Konzerne wie Google und Meta ihren Sitz haben. Sechs Menschenleben haben die Unruhen gekostet, Dutzende Verdächtige wurden festgenommen.

«Communal violence» ist ausgebrochen, sagen die Inder dazu. Das klingt, als ginge etwas Ansteckendes um, und vielleicht ist das gar nicht ganz falsch. Angehörige einer Gruppe attackieren die einer anderen. Hass spaltet die Bewohner. Hindus gegen Muslime. Eine Spur der Verwüstung ist in Videos und auf Bildern zu sehen, ausgebrannte Autos, zerstörte Geschäfte, Angst in den Gesichtern.

Muslime sind mit etwa 200 Millionen Menschen die grösste Minderheit im 1,4-Milliarden-Land, das überwiegend von Hindus bevölkert wird.

Was also ist passiert in Nuh, wo alles begann? Seit einigen Jahren organisieren religiöse Hindu-Gruppen eine Prozession für Pilger in der Gegend, in der viele Muslime leben. An der Prozession nahmen mehr als 20’000 Menschen teil. Früher verliefen sie recht ruhig, aber diesmal ist die Lage explodiert. Auf die Marschierenden, die Stöcke bei sich trugen und Hindu-Slogan skandierten, hagelte es offenbar Steine. Wut schaukelte sich auf, ein Mob attackierte schliesslich eine Moschee und tötete den Imam. Mitte der Woche kam es zu weiteren Attacken auf Moscheen in Haryana. (Lesen Sie auch den Artikel «Bewaffnete Mobs wüten in Manipur».)

Muslime sind mit etwa 200 Millionen Menschen die grösste Minderheit im 1,4-Milliarden-Land, das überwiegend von Hindus bevölkert wird. Zusammenstösse zwischen religiösen Gruppen haben eine lange Geschichte in Indien, doch durch den politischen Siegeszug der Hindu-Nationalisten, mit Premier Narendra Modi an der Spitze, haben die Konflikte noch mal an Dynamik gewonnen.

Kritiker halten der Regierung vor, sie tue nichts, um Hindu-Eiferer in ihre Schranken zu weisen, die Hetze gegen Andersgläubige verbreiten – so nährten sie ein Klima der Angst und des Hasses. Die Regierung bestreitet, dass sie eine anti-muslimische Agenda verfolge, sie versichert, für alle Inder da zu sein.

Folgen der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Hindus und Muslimen: Abgebrannte Busse im Distrikt Nuh.

Die Spannungen halten auch Ende der Woche noch an. Über das Telefon zu erreichen, ist der Politikanalyst Satish Misra, der seit vielen Jahren den Aufstieg der hindu-nationalistischen Bewegung beobachtet. Er lebt in Noida, einer Satellitenstadt nahe Delhi, und sagt: «Wir wissen nicht, was passiert. Heute ist es ruhig, und morgen schon kann die Gewalt eskalieren.» Drohnen überwachen den Grossraum um die Hauptstadt, um aufflammende Gewalt schnell zu erkennen und einzudämmen.

Misra allerdings zählt zu jenen Beobachtern, die sich fragen, weshalb die Behörden überhaupt eine provokante Route für Hindu-Pilger genehmigt haben, die gezielt durch muslimische Viertel führt. Das wäre anders gegangen. Der Analyst beschreibt dabei auch ein Phänomen, das nun in vielen Gegenden zu beobachten sei: Muslime ziehen vermehrt dorthin, wo schon andere Muslime siedeln, sie fühlen sich dort sicherer, seitdem Hindu-Extremisten ihre Hetze verstärken und es zu Übergriffen kommt. Zu den Muslimen in Nuh sagt der Politologe Misra: «Das sind keine Fundamentalisten.»

Die Regierung nährt eine etwas andere Erzählung, sie betont, dass hinter der Gewalt gegen die Pilger eine lange geplante Verschwörung stecke, man fahnde nach einem «Drahtzieher», heisst es, was manche in der Hauptstadt schon so interpretieren, als würden hier Staatsgegner versuchen, Unruhe vor dem G-20-Gipfel in Delhi im kommenden September zu schüren. Ins Zwielicht gerückt werden damit indirekt Angehörige der muslimischen Minderheit, obgleich es einige Spuren gibt, die in eine andere Richtung weisen.

Selbst ernannte Bürgerwehr, die Muslime jagt

Da ist zum Beispiel Monu Manesar, Anführer einer selbst ernannten Bürgerwehr, die als Beschützer von heiligen Kühen auftritt und unter diesem Banner Jagd auf Muslime macht, wenn Gerüchte aufkommen, diese könnten Kühe schlachten. Manesar ist der Polizei bekannt, ihm wird die Entführung und der Mord zweier Muslime in Rajasthan vorgeworfen. Gleichwohl hat er vor der Pilgerprozession in Haryana ein Video hochgeladen, in dem er ankündigte, mitzumarschieren. Angeblich war er dann nicht dabei, aber schon die Aussicht reichte offenbar als Brandbeschleuniger.

Auch das Video eines weiteren Hindu-Eiferers soll Unruhe geschürt haben, er gehört zu einer militanten Hindu-Jugendorganisation und drohte Bewohnern, sie sollten es ja nicht wagen, den Pilgerzug zu stören. Während des Marsches riefen Eiferer «Sieg für Gott Ram», was Indiens Muslime an die Schändung ihrer Babri-Moschee in Ayodhya 1992 erinnert. Damals riss ein Hindu-Mob innerhalb weniger Stunden die gesamte historische Stätte nieder, ein Gewaltakt von hoher symbolischer Bedeutung.

Während Einsatzkräfte in Nuh und anderen Orten weiter aufmarschieren, um die Lage zu kontrollieren, fordert Indiens Kinderrechtskommission eine Untersuchung jener Hinweise, dass Minderjährige als Steinewerfer ins Feld geschickt wurden. Sie müssten vor Missbrauch dieser Art dringend geschützt werden, forderte die indische Behörde in einem Brief an die Polizei.