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75 Jahre unabhängiges Indien
Der Hindu-Nationalismus bedroht die Demokratie

Vorbereitung für die Unabhängigkeitsfeier Indiens: Schülerinnen in Kalkutta schwenken im Gleichschritt die indische Flagge.

Die indische Verfassung verleiht heute jedem Inder den gleichen Status, unabhängig von Geschlecht, Sprache, Religion oder Kaste. Wie revolutionär das Konzept der Gleichheit im traditionellen Indien war, zeigt am besten ein Blick auf das Leben des Vaters der Verfassung, B. R. Ambedkar.

Ambedkar wurde 1891 als Unberührbarer geboren. Sofern sie das Privileg hatten, eine Schule zu besuchen, durften «unberührbare» Kinder wie er nicht im Klassenzimmer sitzen, wo sie andere durch ihre blosse Anwesenheit verunreinigen konnten. Wenn Ambedkar etwas trinken wollte, musste ihm jemand aus einer höheren Kaste Wasser einschenken – aus grosser Höhe, damit er das Gefäss nicht versehentlich berührte. Von Ambedkars dreizehn älteren Geschwistern starben alle bis auf vier schon in jungen Jahren. Dank eines Stipendiums konnte Ambedkar im Ausland studieren. Als er nach Indien zurückkehrte, erfuhr er trotz seiner Qualifikationen als Jurist und Ökonom weiterhin Ungleichheit.

Professorenkollegen weigerten sich, Wasser zu trinken, wenn es aus demselben Krug geschüttet wurde, das auch sein Glas füllte. Die Brüskierungen im universitären Umfeld waren symbolisch. Aber für die unteren Kasten auf der Strasse waren sie ein Kampf ums Überleben. Der Zugang zu den meisten öffentlichen Wasserquellen war ihnen verwehrt. 1927 führte Ambedkar Märsche an, um den Zugang zu öffentlichen Wasserquellen zu ermöglichen. Er beschuldigte hinduistische Schriften, Kastendiskriminierung und Unberührbarkeit ideologisch zu rechtfertigen. Zwei Jahrzehnte Ringen um Gleichheit wurden belohnt, als Ambedkar den Vorsitz im Verfassungskomitee bekleidete und neue Gesetze ausarbeiten konnte, die das Zusammenleben der Inder untereinander regeln sollten.

Sie huldigen ihrem Idol: Menschen bewerfen eine Statue von B.R. Ambedkar mit Blumen anlässlich dessen Geburtstag am 14. April 2022. 

Die am 15. August 1947 erlangte Unabhängigkeit von Grossbritannien versprach mehr als nur die Befreiung von fremder Herrschaft. Sie sollte die Ausbeutung durch die eigenen Landsleute beenden. Gleichheit, so hoffte man, würde materiellen Fortschritt bedeuten durch gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung hin zu einer gerechten Gesellschaft. Der Beitritt Gandhis zur Kongresspartei markierte einen Wendepunkt von einem elitären Club zu einer bemerkenswert friedlichen Mehrheitsbewegung, die nicht aufzuhalten war.

Doch die Gleichheit war von Anfang an fragil. Die Unabhängigkeit führte zur Trennung zwischen Indien und Pakistan, vertrieb zehn Millionen Menschen und tötete eine Million. Alle religiösen Mehrheiten schlachteten die jeweiligen Minderheiten ab: Hindus, Muslime und Sikhs, alle litten und alle machten mit.

Ein Unberührbarer wird Präsident Indiens

Wie ist es dem freien Indien nach dieser Bluttaufe ergangen? Die Lebenserwartung stieg von rund 31 Jahren auf etwa 70 Jahre. Obwohl die folgenden Jahrzehnte durch einen allmählichen Anstieg der Lebensqualität, Bildung für Millionen und die Schaffung einer grösseren Mittelschicht gekennzeichnet waren, haben Hunderte von Millionen Inder noch nicht davon profitiert. Indien ist stolz darauf, dem Weltraum- und dem Atomclub beigetreten zu sein. Doch was würde Ambedkar drei Generationen nach der Unabhängigkeit sagen?

Was das Kastensystem anbelangt, so haben immer wieder Personen aus benachteiligten Schichten einflussreiche Ämter innegehabt. Ein Beispiel ist K. R. Narayanan, der kurz vor der Unabhängigkeit ausgebildet wurde und 1997 der erste Präsident Indiens wurde, der aus einer unberührbaren Familie stammte. Einzelne Erfolge bedeuten jedoch nicht, dass sich die Kultur verändert hat.

Der Unberührbare auf dem Weg ganz nach oben: Kocheril Raman Narayanan winkt aus einer Kutsche, kurz bevor er den Eid als indischer Präsident ablegen wird. 

Auf meiner letzten Reise nach Delhi konnte ich beobachten, wie ein Glas, aus dem ein Hausmädchen trinkt, bei den Hausherren immer noch als verunreinigt gilt und untauglich für den Gebrauch durch bessere Menschen. Es gibt immer noch viele Dörfer, in denen Dalits (Unberührbare) keine Tempel betreten oder Häuser der oberen Kasten besuchen dürfen. Nach Jahrzehnten allmählicher Verbesserung sind die Fortschritte im Bereich der Menschenrechte verkümmert. Besetzte Indien noch 2016 im «Human Freedom Index» Platz 87, so war es 2021 auf Platz 119 gerutscht. Warum?

Jetzt wird Diskriminierung nicht nur toleriert, sondern gefördert.

Um es mit den Worten des Managementexperten Peter Drucker zu sagen: Kultur frisst die Verfassung zum Frühstück. Während der säkulare Kongress bis 2014 die dominante politische Macht Indiens war, wurde er von der nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) entthront. Anstatt zu versuchen, alle Inder als Gleiche zu vereinen, schürt Modis BJP die Flammen des konfessionellen Konflikts durch «Hindutva», eine monolithische religiös-politische Ideologie, die allmählich zum einzigen zulässigen Narrativ geworden ist.

Jetzt wird Diskriminierung nicht nur toleriert, sondern gefördert. Schlagzeilen über kasten- und geschlechtsspezifische Gewalt sind nichts Neues. Doch im heutigen Indien ist die Berichterstattung über unbequeme Wahrheiten eine riskante Angelegenheit. Rechtliche Schritte werden als Waffe eingesetzt, sodass man im Gefängnis sterben kann, ohne jemals eines Verbrechens überführt worden zu sein.

Als die Enthüllungsjournalistin Rana Ayyub das Massaker an mehr als 1000 Muslimen im Jahr 2002 in Premierminister Modis Heimatstaat untersuchte, riefen Trollbanden dazu auf, sie zu vergewaltigen und abzuschlachten. Die Behörden leiteten eine Korruptionsuntersuchung gegen sie ein, in deren Folge auch ihre Bankkonten eingefroren wurden. Immer wieder wird Online-Gewalt angewendet. Die Journalistin Gauri Lankesh wurde 2017 vor ihrer Haustür erschossen für die Sünde des Dissenses gegenüber Modi. Im «World Press Freedom Index» 2022 von Reporter ohne Grenzen rutschte das Land von Platz 142 auf Platz 150 ab.

Alle Nicht-Hindu-Nationalisten sollen Bürger zweiter Klasse sein.

«Hindutva» will Inder von allem entfremden, was in Indien «ausländisch» sein soll, ob Islam, Christentum oder Säkularismus. Der grosse Widerspruch im Kern des Ganzen ist, dass heute weder den Hindus noch uns im Westen mehr bewusst ist, dass 73 moderne Literatursprachen Indiens aus den Dialekten der meist analphabetischen Inder geschaffen wurden – von westlichen Bibelübersetzern. Dazu gehören die Landessprachen von Indien (Hindi), Pakistan (Urdu) und Bagladesh (Bengali). Ohne die gehassten Missionare könnten also auch die meisten Hindutva-Anhänger ihre eigenen heiligen Schriften nicht lesen. Bis zum Aufstieg der BJP im Jahr 2014 betrachteten die meisten gebildeten Inder es eigentlich als eine Stärke ihres Staates, verschiedene Einflüsse zu verschmelzen und zu synthetisieren: ohne Islam kein Taj Mahal, ohne christlichen Einfluss keine Bildung, Spitäler oder liberale Verfassung.

Bevor die Kolonialherren kamen, war Indien geografisch in Hunderte von Königreichen und Sprachen unterteilt und innerhalb dieser Grenzen durch das feudale Kastensystem zersplittert. Die Verfassung war ein Versuch, ein kasten-, klan- und religionsorientiertes konservatives Völkerkonglomerat in eine Nation zu formen, die sich auf der Grundlage des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts dem wirtschaftlichen Fortschritt zuwenden konnte. Bestrebungen wie die der BJP, die Vorherrschaft einer Religion und des Patriarchats wiederherzustellen, stehen im Konflikt zu einer solchen Verfassung. Deshalb wird nun die grösste Errungenschaft der Unabhängigkeit, Ambedkars Verfassung, als westlich und kolonial herabgestuft, damit man sie mit einer «einheimischen» ersetzen kann.

Man kennt zwar noch keine Einzelheiten über die Art der Verfassung, die sich Hindutva-Verfechter wünschen, aber eines ist klar: Alle Nicht-Hindu-Nationalisten sollen Bürger zweiter Klasse sein. Angesichts des wachsenden Hasses gegen Minderheiten warnen Experten wie Gregory Stanton vor einem drohenden Genozid. Man kann nur hoffen, dass das, was der indische Philosoph Vishal Mangalwadi «The Grand Experiment of Modern India» nennt, nicht mit der Abschaffung der Demokratie endet.

Der Autor dieses Artikels, Jyoti Guptara, ist indisch-britischer Abstammung und hat eine Novelle über die Kastendynamik im ländlichen Indien veröffentlicht, «The Promise of the Sky». Diesen Monat erscheint in Indien sein Sachbuch «Business Storytelling from Hype to Hack.»