Analyse zum Obergerichtsurteil Mit Halbwissen urteilen
Wenn ein Gericht von Vorstrafen nichts wissen darf.
Als 17-Jähriger ersticht er die Mutter seiner Freundin und überfällt eine Taxifahrerin. Er wird zu einer Jugendmassnahme verurteilt. Als 29-Jähriger hält er einer jungen Frau ein Messer an den Hals und vergewaltigt sie. Er wird mit achteinhalb Jahren bestraft. Der Versuch, ihn auch zu verwahren, scheitert – obwohl er laut Gutachten nicht therapiefähig und hoch rückfallgefährdet ist.
Grund dafür ist ein Passus im Strafgesetzbuch. Danach darf ein Gericht bei der Festsetzung von Strafe und Massnahme die früheren, aber inzwischen aus dem Strafregister entfernten Urteile eines Beschuldigten nicht mehr berücksichtigen. Und die Verurteilung wegen Tötung und Raubes ist nach zehn Jahren aus dem Strafregister gelöscht worden, wie es das Gesetz vorsieht.
Das Wissen um die hohe Rückfallgefahr ergab sich im Fall des inzwischen 39-Jährigen zu einem wesentlichen Teil aus den inzwischen gelöschten Straftaten. Sowohl der Psychiater wie auch das Gericht wissen davon, aber das Gericht muss so tun, als wisse es davon nichts. Das Obergericht spricht von einem «Dilemma», das Bundesgericht vom «gesetzgeberischen Willen».
Aber das kanns ja wohl nicht sein.
Bei allem Verständnis, dass man einer Person ihre Verfehlungen unter dem Aspekt der Resozialisierung nicht bis an ihr Lebensende vorhält. Aber das kanns ja wohl nicht sein. Da bemüht sich die Justiz seit Jahren, gefährliche Straftäter aus dem Verkehr zu ziehen. Und dann scheitert dieses Bemühen an einer Gesetzesbestimmung, deren Ziel es sicher nicht war, gefährliche Straftäter zu privilegieren.
Es ist problematisch, wenn die Gerichte nicht im Wissen um alle relevanten Fakten die nötigen Urteile fällen können. Irritierend ist leider auch, dass die einschränkende Gesetzesbestimmung überhaupt noch existiert. Seit Sommer 2016 liegt das neue Strafregistergesetz, in dem der strittige Passus fehlt, pfannenfertig und vom Parlament abgesegnet vor. In Kraft treten soll es aber erst Anfang 2023.
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