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Weltpremiere auf dem Flüelapass
Mit dem grössten Helikopter der Schweiz gegen Steinschläge

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Andreas Lanter betrachtet die Zerstörung: Ein drei Tonnen schwerer Stein hat gerade einen Stützpfeiler seiner Steinschlagbarriere mit voller Wucht getroffen und aus der Verankerung gerissen. Das Funkgerät knistert, am anderen Ende meldet sich Andrin Caviezel vom Institut für Schnee und Lawinenforschung (SLF) Davos: «Andreas, jetzt musst du sagen, wie wir weitermachen sollen.»

Wir befinden uns auf dem Flüelapass, oberhalb von Zernez, auf 2300 Meter über Meer und sehen eine Weltpremiere: Erstmals werden für einen Steinschlagtest bis zu 3,2 Tonnen schwere Steine vom grössten Helikopter der Schweiz ausgeklinkt und donnern mit voller Wucht in ein Steinschlagnetz. Das Ziel: Daten sammeln, die in die Entwicklung neuartiger Steinschlagnetze einfliessen, um damit so viele Menschen wie möglich vor Naturkatastrophen zu schützen.

1,2 Millionen Menschen wohnen in Gefahrenzonen

Das ist notwendig, denn solche Tests sollen Leben retten. Über 300’000 Wohnhäuser in der Schweiz stehen in einer Gefahrenzone. Rund 1,2 Millionen Menschen leben in diesen Gebäuden. Ein erheblicher Teil davon lebt mit der ständigen Gefahr, dass das eigene Zuhause von Felsstürzen oder Steinschlägen getroffen werden könnte.

Eine Auswertung des Tamedia-Datenteams zeigt zudem: Von 15’000 untersuchten Ferienwohnungen in der Schweiz befinden sich rund 5000 in einem Gefahrengebiet – viele in den Gebirgskantonen Bern, Graubünden und Wallis. Und oftmals werden die Feriengäste von den Vermietern nicht über diese Gefahr informiert.

Reparatur im Eiltempo

Auf dem Flüelapass hat sich Projektleiter Andreas Lanter inzwischen den Schaden an seiner Barriere angeschaut und greift zum Funkgerät: «Gebt mir ein paar Minuten, dann machen wir weiter wie geplant.» Er klettert auf die Barriere, flickt einen Datenlogger zusammen, nimmt die zerstörte Actionkamera von der weggerissenen Stütze und funkt: «Der Helikopter kann den nächsten Stein hochfliegen.»

Der Helikopter vom Typ Kamov ist der grösste der Schweiz. Nur er kann auf dieser Höhe die 3,2 Tonnen schweren Steine in die Luft heben. Während der Helikopter über ihn hinwegdonnert, ist Lanter zuversichtlich: «Solche Stützentreffer gibt es auch in der Natur, das sollte für die folgenden Tests kein Problem sein.» Bewiesen wurde das bislang in einem Test aber noch nie.

Der Kamov KA 32 A12 ist der grösste Helikopter der Schweiz. Auf Meereshöhe kann er bis zu 5 Tonnen schwere Objekte hochheben.

Insgesamt werden beim Test zehn Versuche mit Steinen zwischen 2,6 und 3,2 Tonnen durchgeführt. Es handelt sich dabei nicht um Steine aus der Natur, sondern um orange Betonblöcke. Einige sind würfelförmig, andere scheibenförmig. Die Form spiele eine grosse Rolle, so Lanter: «In der Natur hat es schon Fälle gegeben, wo scheibenförmige Steine Netze einfach durchtrennt haben.»

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Die Betonsteine werden extra für die Tests angefertigt und können mehrfach verwendet werden.

Das passiert hier nicht – trotz der umgerissenen Stütze: Das Netz hält allen Steinen stand. Nach knapp drei Stunden fliegt der Helikopter zurück Richtung Tal. Lanter macht sich mit Kollegen ans Aufräumen und Einsammeln der Datenmessgeräte. «Zur Datenauswertung kann ich jetzt noch nicht viel sagen, das braucht Zeit», sagt er.

Stützentreffer als Glücksfall

Knapp zwei Monate nach dem Test wagt Lanter für diese Zeitung eine erste Analyse der Daten. Sie sind vielversprechend, der Test war ein Erfolg. «Es hat sich gezeigt, dass unser Netz auch einem 10-Tonnen-Stein standgehalten hätte», erklärt er. Der Stützentreffer war sogar eine Art Glücksfall: «Die Chance dafür lag bei etwa einem Prozent. Aber dadurch konnten wir zum ersten Mal beweisen, dass das System auch nach einem Stützentreffer weiterhin einwandfrei funktioniert.»

Der Test im freien Feld sei aufwendig und auch teuer gewesen, «allein das Starten der Helikopterturbine kostet jedes Mal rund 800 Franken», so Lanter. Dennoch seien solche naturnahen Tests unerlässlich. Bei kontrollierten Tests werde fast immer nur die Mitte der Netze getestet. In der Natur sei eine Steinschlagbarriere aber 40 bis 60 Meter lang oder noch länger, «und die Natur trifft nicht immer nur in der Mitte».

In Zukunft Seilbahn statt Helikopter?

Der Test habe bewiesen, dass das System auch an den Schwachstellen einer Barriere, bei den Stützen und an den Rändern, guten Schutz biete. Das sei zentral: «Denn ein Kunde erwartet ja, dass die Menschen unter der Barriere überall geschützt sind und nicht nur genau in der Mitte», so Lanter.

Im nächsten Jahr sind vorerst keine weiteren Tests angedacht. Noch schwerere Steine könnten ohnehin nicht getestet werden, denn der Helikopter kann sie auf dieser Höhe über Meer gar nicht mehr tragen. Derzeit wird diskutiert, ob eine spezielle Seilbahn entwickelt werden soll, um solche Tests durchzuführen, «aber eigentlich genügen uns die Daten, die wir aus dem Test gewinnen konnten, für die Entwicklung neuer Systeme vorerst», so Lanter.

Projekte in Österreich und der Ostschweiz

Erste Bestellungen für diese neuartigen Netze gibt es bereits. In Österreich wird eine Anlage der Geobrugg die Gleise der Österreichischen Bundesbahnen schützen. Und im Frühling sollen auch in der Ostschweiz erste Systeme installiert werden.

Dass diese Schutzmassnahmen notwendig sind, steht für Lanter ausser Zweifel: «Der Klimawandel wird dazu führen, dass es mehr Naturkatastrophen geben wird.» Dem pflichtet auch das Bundesamt für Umwelt in einem Bericht vom Jahr 2019 bei, in welchem es um Massnahmen gegen die Folgen des Klimawandels geht: «In den Alpen beeinträchtigen abschmelzende Gletscher und auftauender Permafrost die Stabilität des Untergrunds. Es kommt zu mehr Erdrutschen, Steinschlägen, Felsstürzen und Murgängen.»