Milo Raus Familiendrama im Schiffbau«Wir haben es verbockt, Pardon»
Der Schweizer Regisseur hat den Fall eines kollektiven Suizids einer ganzen Familie aufgegriffen. Das berührt und stimmt dennoch skeptisch.

Es ist dunkel geworden. Im Haus mit den roten Backsteinen und den grossen Fensterfronten zur Terrasse hin – und zum Publikum der Schiffbauhalle – sind die Lichter angegangen. Die Vögel zwitschern ihr Abendlied, manchmal zerreisst der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos die Schwärze. Die Livecam linst in die offene Küche hinein, streift übers Sofa, gewährt uns auf einer riesigen Leinwand Einblick ins Bad, wo die Hausherrin (An Miller), eine Schauspielerin, gerade Familienfotos aufhängt: Schöne Erinnerungen an vergangene Jahre, an die Kindheit der beiden Töchter beispielsweise.
Bald jedoch – das weiss der Theaterbesucher – werden die Familienmitglieder an Galgenstricken baumeln; die Spannung steigt, während die Zeit der vier Menschen abläuft.
Bei der Uraufführung von Milo Raus «Familie» in Gent im Januar 2020 waren An Millers Töchter, die sich hier selbst spielenden Louise und Leonce Peeters, 15 beziehungsweise 14 Jahre alt. Und auch heute berührt, wenn wir die zwei todesbereiten Teenager als fröhliche Blondschöpfe mit runden Babygesichtern sehen, die gern Quatsch vor der Kamera machten und mit ihrem Hund herumtollten: Im Lauf des anderthalbstündigen Abends werden neben den Fotos auch echte Familienfilme der Peeters’ gezeigt.
Überhaupt stimmt der Flow von Live-Cam und Retrospektive, von Theaterfernsehen und Bühnenpräsenz: Rau ist multimedial versiert, und zugleich ist das Stichwort «Echtheit» fürs Schaffen des Politkünstlers und Theaterpioniers fast eine Tautologie. Der Neorealist des Theaters mit dem moralphilosophischen Anspruch hat bekanntlich etliche historische Momente detailgetreu nachgestellt, «reenacted». Er hat in juristischen Mock-Prozessen reale Akteure der Weltgeschichte auf die Bühne geholt (etwa im Kongo); und er hat authentische afrikanische Erntehelfer ebenso an seinen Werken beteiligt wie schweizerische Behinderte. Für die Auseinandersetzung mit den Dutroux-Verbrechen wiederum arbeitete er mit Kindern.

Dass Rau diesmal mit herzergreifenden Kinderbildern und einem hinreissenden alten Hündchen operiert, dazu Leonard Cohens aufwühlenden Song «Who By Fire» unterlegt, ist allerdings eher einer Ästhetik des Aufrüttelnden, dem Wunsch nach maximalem Effekt und extremer Fallhöhe, geschuldet als einer Ästhetik des Ehrlichen. «Familie» ist der Auftakt zu Raus «Trilogie des Privaten», die er dieses Jahr abschliessen wird: Das Stück legt, beinahe à la Ibsen, schmerzlich die Risse in einem Mittelschichtsidyll frei. Es konfrontiert den Mittelschichtszuschauer mit der Frage nach dem Sinn des Alltagsgehampels und mit der grundsätzlichen Einsamkeit von allen.
Was bleibt von unseren Sehnsüchten, deren Erfüllung wir ins Konzept Kleinfamilie hineinprojizieren? Laut «Familie» am Ende nur die traurige Gewissheit, dass Liebe fluid ist und Berufsarbeit ein Beziehungskiller. Die Gewissheit, dass Fluchtträume in Enttäuschungen münden; dass Frauen stets zurückstecken; dass die Meeresspiegel sowieso steigen und alles überschwemmen werden; und dass der entfremdete Vater (Filip Peeters), ebenfalls ein Schauspieler, nie mehr geglückte Bindungen zu seinen Töchtern aufbauen kann. In all dem Wohlstand, hinter all der Geschäftigkeit, dem Vokabellernen, Häuslebauen und Kunstproduzieren, den Familienritualen, gibt es nichts als gähnende Leere. Wieso also weitermachen?
«Wir haben es verbockt, sorry», schreibt die Mutter noch auf einen Zettel, nachdem die vier einander routiniert vorgespielt haben, dass sie das letzte Abendmahl gern miteinander einnehmen. Dann wird abgespült, geputzt, aufgeräumt und die finale Liste abgehakt: Anweisungen für die Hundepflege, check; Strom ausschalten, check; Garage auf Handbetrieb stellen, check … Endlich hängen sich die vier auf, nach einem grauenvollen, letzten Ritardando, in dem die Töchter vor der Tat zurückschrecken. Sie hängen und hängen: Regisseur Rau wuchtet uns den Horror aufs Auge und lässt ihn wirken.
Ist das Stück ein Missbrauch des tragischen Falls einer angeschlagenen Familie?
Diese Geschichte vom unerklärlichen kollektiven Suizid stammt aus Frankreich: 2007 fand man in einem Dorf in der Nähe von Calais Mutter Marie-Christine Demeester (55), Vater René Demeester (55), Sohn Olivier (30) und Tochter Angélique (28) erhängt. «On a trop déconné. Pardon» stand im Abschiedsbrief.
So weit die Ähnlichkeiten. Sonst aber haben die belgische Familie Peeters und die französische Familie Demeester nicht viel gemein: hier das Künstlerpaar, dessen jüngere Tochter ein Medizinstudium in England (Psychiatrie!) plant; die ältere, gleichfalls hochreflektierte, hat zeitweilig mit einer Depression zu kämpfen, ist dabei jedoch in ständiger, fruchtbarer Kommunikation mit ihrer Mutter.
Da die katholischen Demeesters: Gemäss französischen Presseberichten hatte Vater René als Laborant in einer Chemiefirma gearbeitet und war wegen Asbestkontakt früh verrentet worden; am Dorfleben nahm er freilich bis kurz vor dem Suizid rege teil. Mutter Marie lebte als Nur-Hausfrau ausserordentlich zurückgezogen, nicht einmal die Nachbarn nannten sie beim Vornamen. Sohn Olivier hatte sich als Lastwagenfahrer selbstständig machen wollen, war aber gescheitert, pleite und arbeitslos. Die Tochter arbeitete als Reinigungskraft und hatte sich unter einem Vorwand von der Arbeit abgemeldet. Vater und Sohn waren Monate vor dem Tod Antidepressiva verschrieben worden, die Mutter hatte kurz vor der Tat über ihre Depression geklagt. Der zweite Sohn François war schon als Baby gestorben.

Nun müssen Theaterfiktionen sich keineswegs an die Realität halten. Will man die seelische Wohlstandsverwahrlosung der saturierten Mittelschicht, ihre Hoffnungslosigkeit und ihre (buchstäbliche) Suizidgefährdung widerspiegeln, passen die Familienverhältnisse der Demeesters nicht wirklich. Es muss dann aber auch die Frage erlaubt sein: Darf und sollte man sich hier überhaupt auf diesen echten tragischen Fall stützen? Ist das nicht fast schon missbräuchlich gegenüber den psychisch und sozial angeschlagenen Demeesters?
Einer Familie wie jener der Peeters’ gelingt es, essenzielle Fragestellungen zu veranschaulichen, die uns betreffen – und tatsächlich auch betroffen zu machen. Aber dass die Peeters zu dem verstörenden letzten Schritt bereit wären, nimmt man ihnen, zum Glück, nicht ab.
Aufführungen noch 6.1. und 7.1.
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