Migrationskrise in EuropaNeuer Flüchtlingsdeal zwischen EU und Türkei?
In Griechenland kommen derzeit sehr viele Bootsflüchtlinge an. Dabei spielt Ankara eine Schlüsselrolle. Experte Gerald Knaus zu den Chancen für ein neues Abkommen.
Offenbar war die Katastrophe von Pylos dann doch so etwas wie ein kleiner Wendepunkt. 80 Kilometer vor der griechischen Hafenstadt sank im Juni ein Fischkutter voller Migranten, die auf dem Weg von der libyschen Küste nach Italien waren. Hunderte Menschen kamen ums Leben, und einige der 104 Überlebenden machen der griechischen Küstenwache schwere Vorwürfe: Sie habe das Kentern möglicherweise sogar mit verursacht – und dann erst viel zu spät mit der Rettung der im Wasser treibenden Menschen begonnen.
Die griechischen Behörden streiten die Vorwürfe routiniert ab. Doch innerhalb der EU war im Anschluss an die Katastrophe der Druck auf Athen gewachsen. Der Leiter der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, Hans Leijtens, forderte Aufklärung über den wahren Hergang des Unglücks – und auch über Vorwürfe brutaler illegaler Pushbacks durch griechische Grenzbeamte, wie sie von Hilfsorganisationen und Aktivisten hundertfach dokumentiert wurden.
Implizit drohte Leijtens den Griechen, Frontex könnte sich aus dem Land zurückziehen. (Lesen Sie zum Thema auch unser Interview mit dem Frontex-Chef: «Wenn ich das Sterben stoppen könnte, würde ich das morgen tun».)
In Athen und auch im Rest Europas wächst die Nervosität
Ob es an derartigen Ermahnungen liegt oder an innerer Überzeugung in der griechischen Regierung, dass sich Brutalität und Rechtlosigkeit im Umgang mit Schutzsuchenden nicht beliebig steigern lassen: «Nach Pylos sind alle weicher geworden», berichtet das Investigativportal Insidestory.gr unter Berufung auf Recherchen bei Polizei und Küstenwache. Den Eindruck bestätigen Aktivisten.
Die Organisation Aegean Boat Report etwa berichtet, die Praxis der Pushbacks von den griechischen Inseln habe «plötzlich aufgehört». Das Zurückdrängen von Menschen auf hoher See gehe unterdessen weiter, wenn auch in vermindertem Ausmass.
Zugleich steigt die Zahl jener, die aus der Türkei auf den griechischen Ägäis-Inseln ankommen, in jüngster Zeit deutlich an – seit Mitte August sind es an manchen Tagen mehrere Hundert. Insgesamt, sagt Stella Nanou, Sprecherin des UNO-Flüchtlingskommissariats in Griechenland, sei die Situation noch «gut handhabbar». Trotzdem wächst in Athen und auch im Rest Europas die Nervosität. Mehrere Aufnahmeeinrichtungen sind bereits jetzt nahezu voll.
Die EU müsse der Türkei jetzt ein «attraktives» Angebot machen, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus.
Der bekannte Migrationsforscher Gerald Knaus mahnt deshalb, die EU müsse dringend zu einer neuen Einigung mit der Türkei finden. In der aktuellen Situation sieht Knaus eine «Gefahr», aber auch eine «Riesenchance»: Nachdem zwischen Athen und Ankara die Zeichen lange auf Konfrontation standen – auch wegen des ungelösten Streits um Erdgasreserven im Mittelmeer –, bemühen sich beide Seiten derzeit um versöhnlichere Töne. Die EU müsse dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan jetzt ein «attraktives» Angebot machen, fordert Knaus.
Ein solches Angebot wäre etwa die Verpflichtung, jährlich eine bestimmte Zahl von syrischen Geflüchteten aus der Türkei aufzunehmen, ausserdem ein Kontingent für legale Arbeitsmigration türkischer Staatsbürger in EU-Staaten sowie Visaerleichterungen.
Im Gegenzug könnte die Türkei sich verpflichten, alle Migranten, die irregulär die Land- oder Seegrenze zu Griechenland überqueren, wieder aufzunehmen und ihnen auf ihrem Territorium ein faires Asylverfahren zu ermöglichen, unter Federführung des UNHCR. «Europa könnte so die Zahl der Ankommenden senken und zugleich zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren», sagt Knaus.
Doch wie gross ist die Bereitschaft in Ankara, sich auf einen neuen Deal mit der EU einzulassen? Die Tatsache, dass wieder mehr Menschen in Griechenland ankommen, hat ja auch mit der Situation auf der anderen Seite der Ägäis zu tun. Die Türkei hat sich für Geflüchtete zu einem zunehmend feindseligen Ort entwickelt, gerade für Syrer und Afghanen. Bis zu vier Millionen von ihnen leben noch in der Türkei.
Aber die Zeiten, in denen sich die türkische Regierung für ihre humanitäre Hilfe feiern liess, sind vorbei. Jetzt geht es darum, die Menschen loszuwerden, und das so schnell wie möglich. Eine Million Syrer, hat Erdogan gesagt, sollen in ihr Land zurückkehren. Freiwillig, wie es heisst.
Im Volk kommt das gut an, weniges verbindet die Menschen in der Türkei so sehr wie ihr Misstrauen gegenüber den Geflüchteten – vor allem den Syrern und Afghanen. So geht etwa das Gerücht um, den Migranten gehe es besser als vielen türkischen Erdbebenopfern. Viele im Land glauben das gern.
Erdogan betrachtet die Geflohenen als Instrument seiner Politik gegenüber Europa.
Und Erdogan ist längst im Wahlkampfmodus. Im Frühjahr stehen die wichtigen Kommunalwahlen an, bei denen der Präsident das Rathaus von Istanbul für seine AKP zurückerobern will. Gerade in Istanbul werden die Geflüchteten im Wahlkampf eine grosse Rolle spielen. Erdogan geht es also in erster Linie darum, dass ihre Zahl spürbar sinkt. Sie sollen zurück in ihre Heimatländer. Falls sie sich aber stattdessen auf den Weg nach Europa machen, dürfte Erdogan nichts dagegen haben.
Es wäre nicht das erste Mal, dass der türkische Präsident mit den Menschen Politik macht, indem er sie in Richtung griechische Inseln ziehen lässt – bis ihm Europa ein Angebot unterbreitet. So war es schon im Winter 2015/16, also vor dem EU-Türkei-Deal. Anfang 2020 liess Erdogan sogar Tausende Geflüchtete in Bussen von Istanbul bis an die griechische Grenze bringen. Erdogan betrachtet die Geflohenen als Instrument seiner Politik gegenüber der EU.
Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis hat angekündigt, dass er sich im Dezember mit Erdogan in Thessaloniki treffen will. Die Zusammenarbeit mit der Türkei sei «unerlässlich», um die Zahl der an der EU-Aussengrenze ankommenden Migranten zu reduzieren.
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