Essay von Michail SchischkinRusslands Kultur ist verseucht
Das Volk bleibt stumm, Regisseure und Dichter im Land finden keine Worte: Welche Zukunft hat die russische Kultur nach dem Massenmord in der Ukraine?
Bei meinen öffentlichen Auftritten in Europa drehten sich 2014 alle Fragen und Gespräche um den Krieg. Auf der Buchmesse in Russland sprach man über Gott und die Welt, nur nicht über den Krieg. Ich war wohl der Einzige, der sich auf dem Podium zu der eingetretenen Katastrophe äusserte.
Es war ein erniedrigendes Schweigen. Mit den Jahren des Krieges wurde das Schweigen ohrenbetäubend, nach dem 24. Februar 2022 ist es unerträglich geworden.
Eine Lawine des Schweigens, ein stummer Chor. Ein einziger grosser Schweige-Meisterkurs für die russische Kultur. Laut über Belangloses reden heisst mit voller Wucht schweigen. Ein Schutzschweigen? Die russische Literatur hat nicht vor dem Gulag geschützt, aber sie hat geholfen, im Land des Gulags zu überleben. Jetzt eilt sie wieder zu Hilfe.
Die Zeit und die historischen Umstände wirken sich auf die Geschmacksrezeptoren aus. In meiner Jugend verhinderte die russische Klassik, dass ich in der sowjetischen Lüge ersoff. Ich versuche, die geliebten Dichter des Goldenen Zeitalters wieder zu lesen, doch sie sind alle gefüllt mit patriotischer Kotze.
Man muss sich bewusst machen, dass Russland auch im 21. Jahrhundert noch nach dem Gesetz der Goldenen Horde lebt: An der Spitze der Pyramide steht der Khan, unten seine Sklaven, ohne Recht auf Stimme und Eigentum. Dieses Gesellschaftsmodell hat nur einen Sinn und eine Ideologie: die Macht selbst und den Kampf um sie. Seine notwendige und hinreichende Existenzbedingung ist die Gewalt. Diese Lebensform eines ganzen grossen Landes lässt sich so wenig per Dekret abschaffen wie seine Sprache.
Was würde Tolstoi tun, was Rachmaninow?
Die gefängnisartigen Verhältnisse haben im Laufe der Generationen das entsprechende Verhalten hervorgebracht. Wer unter Wölfen ist, muss mit ihnen heulen. Das fand seinen Ausdruck auch in der Sprache. Sie wurde in den Dienst des russischen Lebens gestellt, um es im permanenten, endlosen Krieg gegen die ganze Welt und sich selbst zu unterstützen.
Sprache als Form der Persönlichkeitsmissachtung. Als Mittel zur Vernichtung der Menschenwürde.
In brutaler Vulgärsprache, die die Essenz des russischen Daseins ausdrückt, reden Staatsmacht und Bevölkerung schon seit tausend Jahren. Die Sprache der russischen Literatur aber ist eine fremde Schwellung auf dem Körper der Sklavenpyramiden-Sprache. Sie bildete sich im 18. Jahrhundert, als Siedler aus dem Westen exotische Begriffe mitbrachten: Liberté, Égalité, Fraternité.
Die russische Staatsmacht ähnelt, wie längst bemerkt worden ist, dem antiken König Midas: Wie alles, was dieser berührte, zu Gold wurde, so verwandelt sich alles, was jene anfasst, in Dreck und Blut. Und die Machthaber langen mit ihren Fingern überallhin.
Sie wollen Tolstoi, Rachmaninow und Brodsky für sich nutzen. Sie verneigen sich vor den Verstorbenen, weil sie wissen, dass diese nicht antworten können, und glauben, dass so ein Abglanz der Klassiker auf sie fallen wird, auf das Putin-Regime, auf ihre «militärische Spezialoperation».
Ich bin sicher, Tolstoi hätte diesen banditischen Pseudostaat aufgefordert, sich zu verp… und verlangt, im Literaturunterricht statt seines Porträts über allen Schultafeln seine Worte aufzuhängen: «Patriotismus ist Sklaverei». Rachmaninow hätte sofort Wohltätigkeitskonzerte für verwundete ukrainische Kinder gegeben. Brodsky hätte als Busse für sein schändliches Spottgedicht «Auf die Unabhängigkeit der Ukraine» weltweit Vorträge gehalten, um Geld für die ukrainischen Streitkräfte zu sammeln.
Dostojewski hingegen mit seinem russisch-orthodoxen «Allmenschentum» wäre, so fürchte ich, Moderator beim patriotisch-religiösen Fernsehkanal Zargrad.
Russland kennt nur zwei Jahreszeiten: Ordnung und Wirren
Nach dem 24. Februar 2022 protestierten nur Einzelne öffentlich. Wo sind sie heute, diese verzweifelten, wunderbaren Menschen, die auf die Strasse gingen, um mit ihrer Person die Würde ihres Volkes und ihres Landes zu verteidigen? Entweder im Gefängnis oder geflohen. Das Volk blieb stumm. Schweigen ist die Überlebensstrategie seit Generationen. Die westlichen Russlandexperten führten das auf Angst zurück.
Dann kam die Mobilmachung, und die Welt sah mit Erstaunen, wie Hunderttausende Russen gehorsam in den Krieg zogen, um Ukrainer zu töten und sich selbst töten zu lassen. Das hat mit einer Überlebensstrategie nichts mehr zu tun. Es reicht tiefer und ist schlimmer.
Russlands Bevölkerung ist mit Stammesbewusstsein infiziert. Diese Kinderkrankheit der Menschheit wird durch Aufklärung geheilt. In der modernen Zivilisation tritt das Individuum an die Stelle des Stammes, die Persönlichkeit ist das Fundament der Gesellschaft.
Das Stammesbewusstsein hat nicht einmal einen Begriff von der persönlichen Verantwortung für die Wahl zwischen Gut und Böse. Mutter Heimat ruft! Die russischen Regime haben seit jeher versucht, im Land die Mentalität eines von Feinden umgebenen Stammes zu fördern – von «Autokratie, Orthodoxie, Volkstum» über «Ruhm der KPdSU» bis zu «Die Krim ist unser».
Russlands politisches Leben kennt nur zwei Jahreszeiten: Ordnung und Wirren. Die Generationen alte Volksweisheit besagt: Herrscht Ordnung, so ist der Zar echt, gibt es Wirren, so ist er es nicht.
Auf Russlands Territorium ist die historische Zeit stehen geblieben. Das Land findet nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart, die Kalenderumstellung hat da nicht geholfen. Dass Kiew nicht eingenommen wurde, dass der Sieg im Ukraine-Krieg aussteht, ist ein klares Zeichen: Der Zar ist nicht echt.
Einmal hielt das Land den Atem an
Als Prigoschins Panzer erst 400, dann 300, dann 200 Kilometer vor Moskau standen, hielt das Land den Atem an. Die Wagner-Söldner wurden im «befreiten» Rostow mit Blumen und Glace empfangen. Prigoschin hatte, was es brauchte, um sich zum neuen Zaren auszurufen: Gewalt, der sich niemand auch nur entgegenzustellen versuchte.
Er war Fleisch vom Fleische Russlands: Er verströmte den Gefängnisgeruch, den die russische Nase gewohnt ist, und aus seinem Mund ergoss sich der vertraute Jargon. Vor allem aber hatte er als einziger von Putins «Generalen» überhaupt einen Sieg vorzuweisen, wenigstens einen kleinen. Russland ist bereit für einen neuen Zaren, aber es steht noch kein neuer Zar für Russland bereit.
Historisch betrachtet war es für Deutschland besser, dass Stauffenberg Hitler nicht in die Luft gejagt hat. Die Entnazifizierung wurde nicht von Gestapo-Offizieren durchgeführt, sondern von den Besatzungsmächten. Doch Abrams-Panzer werden in Moskau nicht einfahren.
Die Post-Putins werden in Butscha, Mariupol, Prag, Budapest, Vilnius und Tiflis nicht auf die Knie fallen. Ein Zar tut das nicht. Also wird es auch keinen Marshallplan geben. Dafür einen Handshake mit dem Kremlherrscher, der als Erster dem Westen die Kontrolle über das eingerostete Atomwaffenarsenal zusichert.
Mit Verrat schützt man weder sich noch sein Theater
Was die Kultur betrifft, ist die Russische Föderation auf absehbare Zeit zu einer radioaktiv verseuchten Zone geworden.
Die Universitätsrektoren, Museums- und Bibliotheksdirektoren, Theater- und Filmregisseure, die die «militärische Spezialoperation» offen unterstützen, haben sich zu Kriegsverbrechern gemacht. Aber sie brauchen nichts zu befürchten. Doch wer sich selbst verrät, um sein Theater zu schützen, kann dann in diesem Theater als Regisseur nicht mehr tun, wozu er berufen ist. Mit Verrat schützt man weder sich noch sein Theater.
Kultur ist eine Existenzform der Menschenwürde.
Von Dreck und Schweiss kann man sich reinigen, aber wie reinigt man sich vom Schweigen? Wo verläuft die Trennlinie zwischen Schutzschweigen und Niedertracht?
Putins Krieg gegen die Ukraine trifft auch Russland. Die Machthaber richten die Kultur zugrunde. Sie richten das Land zugrunde. Das Volk schweigt, legt aus alter Gewohnheit den Kopf auf den Richtblock und seufzt, dass der Zar es schon wissen wird. Dem Schweigen lässt sich nur das Wort entgegensetzen. Das freie Wort ist schon ein Akt des Widerstands. In Russland kann man entweder patriotische Lieder singen oder schweigen. Oder emigrieren. Emigration ist ein Akt des Widerstands.
Mein Russland, das ist ein Land, das seine Unabhängigkeit vom Stiefel des Machthabers erklärt hat. Man braucht für dieses Land weder Legalisierung noch Pass. Das Atmen eines Menschen, der durch die russische Kultur lebt, ist Legitimierung genug. Die Hauptstadt der russischen Kultur ist dort, wo wir sind – ihre Träger, ihre Konsumenten, ihre Schöpfer. Überall auf der Welt.
Ein Sühnetext aus dem Schützengraben
Aber wie lange kann eine Sprache in der Emigration leben? Wir haben die Erfahrung des Exodus nach 1917: Die Kinder der Emigranten sprachen noch Russisch, die Enkel nicht mehr. Wir haben unsere eigene Erfahrung: Unsere Kinder sprechen noch Russisch mit uns, aber werden es die Enkel tun?
Der Blutkreislauf der Sprache wird auch künftig von Russland aus aufgefrischt werden. Brodsky, Sasha Sokolov und Wladimir Scharow sind alle aus der sowjetischen Jauche gekommen. Die Sprache sucht sich ihre Dichter, so wie der Fluss sein Bett.
Wofür braucht es die russische Kultur?
Der russischen Literatur kann nur ein Text ihre Würde wiedergeben. Ein Sühnetext. Und schreiben kann ihn kein Emigrant, sondern nur jemand, der in der Ukraine im Schützengraben sass und sich Fragen stellte. Wer bin ich? Was mache ich hier? Wozu dieser Krieg? Warum sind wir Russen die Faschisten?
Ob dieser Text jemals geschrieben wird? Das weiss Gott.
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