Max Küng gegen die NaturMein Keller ist mein Freund
Unser Autor ist enthusiastischer Rennvelofahrer – und fährt tausende Kilometer an einem Ort, an dem ihn keine Pollen oder SUV-Fahrer stören.
Nicht professionelle, aber umso enthusiastischere Rennvelofahrer:innen nennt man Gümmeler:innen. Eine Gemeinschaft mit einem zwar teilweise zur Selbstentwürdigung tendierenden Kleidungsstil (zum Beispiel männlicher Hosenbereich), aber mit dem grossartigsten und gesündesten Hobby überhaupt. Gut, manche sind verbissene, wildsauartige Tempobolzer, im Grossen und Ganzen aber ist die Gemeinschaft ausgesprochen sympathisch. Doch wie in jeder Gemeinschaft – so locker sie scheinen mag – muss eine Ordnung her.
Ein Ordnungssystem im Rennvelokosmos ist die Hierarchie nach gefahrenen Kilometern, welche die Ernsthaftigkeit der Leidenschaft definiert. Diese Kilometerleistung lässt sich etwa an der Bräunungslinie ablesen, also an der scharfen Trennung von bleicher und sonnengebräunter Körperhaut im Bereich Oberarm sowie -schenkel. Eingefleischte legen sich deshalb gerne winters mit Rennvelomontur im Solarium auf die Sonnenbank, damit die Bräunungslinien im März wie mit dem Lineal gezogen daherkommen.
Im bekleideten Alltag ist diese nonverbale Aussage leider untauglich, also muss man wohl oder übel aussprechen, wie viele Kilometer man gefahren ist. Und weil man der hiesigen Zurückhaltung wegen nicht einfach so die Zahl benennen kann, muss man das Gegenüber erst nach seiner Leistung fragen. Dies ist dann und wann ein arges Rumgedruckse.
Ich bin diesbezüglich entspannt. Erst letzte Woche lernte ich jemanden kennen, erkannte ihn an seiner Mütze als Gümmeler, also sagte ich dicht im Windschatten meines Namens die Kilometerzahl, die ich in diesem Jahr bisher in die Waden gestrampelt habe: «2137,9.»
Was ich nicht sagte: All diese Kilometer fuhr ich im Keller, auf der Trainingsrolle. Keinen einzigen davon in der Natur. Anfangs ging es in den Keller, weil draussen Schnee lag, und kaum war der Schnee geschmolzen, kamen auch schon die Pollen. Ausserdem war es viel zu kalt. Und wenn es nicht zu kalt war, war es viel zu warm. Oder es regnete. Und dann geht im Frühjahr gerne der Wind in all seinen fiesen Varianten: Seitenwind, Scherwind, Gegenwind!
Es gibt unzählige Gründe, um an der vielgerühmten Schönheit der Natur zu zweifeln: Insekten, die herumschwirren und zielgenau in das vor Anstrengung aufgerissene Maul fliegen; Zecken, die einen blutgeil aus dem Nichts anspringen; und eben: Pollen! Pollen! Pollen! Die Natur ist ein arger Menschenfeind.
Und nicht nur von Natur aus ist die Natur voller Widrigkeiten, denn die Strassen sind gefüllt mit walzigen SUVs und Motorrädern mit ausgefeiltem Auspufftuning, abseits der befestigten Wege im Wald wartet der Naherholungsdichtestress: Wanderoiden! Jogger! Freilaufende Vierbeiner aller Art, neuerdings gar Wölfe!
In meinem Keller gibt es all dies nicht. Keine Störung. Keine Ablenkung. Nur Sichtbeton, den ich stundenlang betrachten kann wie ein Gemälde von Mark Rothko, während ich an Ort und Stelle trete, Puls auf 180, unter mir ein Meer aus herabgeflossnem Schweiss … und de Ventilator summet liisli … es isch als gäbs mich nüme meh …
Wer nun meint, das sei langweilig, der oder dem entgegne ich: Stimmt nicht! In meinem Keller gibts auch einen Fernseher und dort direktübertragene Velorennen! Das Allerschönste: dass meine Kellerfahrt exakt dann zu einem Ende kommt, wenn die Rennfahrer im TV das Ziel erreichen. Reissverschluss vom Trikot hochziehen, Jubelgeste!
Der Keller und ich, wir sind mittlerweile dicke Freunde geworden. Da hat die Natur nun einen schweren Stand. Aber sie ist selber schuld.
Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».
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