Leidgeplagter Schweizer AbfahrerEr weinte am Lauberhorn – nun will er sich schützen
Für Marco Kohler ist Wengen ein Schicksalsort, der ihm viele Schmerzen zugefügt hat. Den letzten Unfall hat er aus der Erinnerung gelöscht. Mit einer speziellen Technik.
- Marco Kohler besuchte den Sturzort am Lauberhorn für seinen Verarbeitungsprozess.
- Seit seinem Comeback im Dezember fuhr der 27-Jährige schon zweimal in die Top 15.
- Die Freundschaft mit Marco Odermatt bietet ihm wichtige Unterstützung.
- Eine Skilegende erwartet von Kohler zukünftige Erfolge trotz seiner Leidensgeschichte.
Anfang August sitzt Marco Kohler im Zug, auf dem Weg Richtung Kleine Scheidegg steigt er aus und wandert über die Lauberhornstrecke. Beim Haneggschuss, dieser Hochgeschwindigkeitspassage, in der die Abfahrer im Winter mit Tempi an die 160 km/h herunterdonnern, hält er an. Er setzt sich hin, in kurzen Hosen statt im Skianzug, auf die grüne Wiese neben Kuhfladen statt auf vereisten Schnee mit Torstangen.
Beim Berner kommen Erinnerungen hoch, solche der unschönen Art – sieben Monate zuvor ist er an jener Stelle gestürzt, das Knie ist beschädigt, schon wieder. Eine Stunde sitzt er da, für sich allein, mit ihm die schweren Gedanken. Er ordnet die Bilder im Kopf, es fliessen Tränen. Dann ist er mit sich im Reinen und geht nach Hause.
Und schon wieder läuft der gleiche Film
Der Besuch am Unglücksort gehört zum Verarbeitungsprozess in Kohlers Skifahrerleben. Die Lauberhornrennen mögen sein Heimspiel sein, doch Wengen ist auch sein Schicksalsort, bereits 2020 stürzte er im Berner Oberland fürchterlich. Die Konfrontation mit der verhängnisvollen Stelle sei wichtig gewesen, sagt der 27-Jährige, «ich brauchte das, um bereit zu sein, wenn es hier wieder zur Sache geht». Das tut es in dieser Woche, und Aussenstehende können nur ahnen, wie belastend die Tage für Kohler gerade sein müssen.
Vor fünf Jahren gilt der Speed-Spezialist als Talent, das wegen einiger Rückschläge noch nicht im Weltcup angekommen ist. Als Vorfahrer darf er das Abfahrtstraining bestreiten, mit vollem Eifer ist er dabei; er will zeigen, dass er zu Höherem berufen ist, als nur die erste Spur in den Schnee zu ziehen. Das Ziel-S hat er noch vor sich, dann passiert es: Rücklage, Ski verschnitten, Bein verdreht, Abflug ins Netz. Den Fangzaun durchbricht er sogar. Im Knie ist kaputt, was kaputt sein kann, fast zwei Jahre muss er pausieren, zwischenzeitlich arbeitet er in der Autogarage der Eltern.
Im vergangenen Januar hat sich Kohler im Weltcup etabliert, mit zwei Top-10-Plätzen gehört er zu den Aufsteigern des Winters, er verblüfft gar sich selbst. Der Sturz in Wengen passt nicht in die Aufsteigergeschichte, als er auf der Piste liegt, bricht eine Welt zusammen. Und ein Horrorfilm wird abgespielt, in dem er schon einmal unfreiwillig die Hauptrolle gespielt hat: Der Erstversorger auf der Strecke, der Helfer, der mit ihm am Seil des Helikopters hängt, der Pilot, der Arzt im Spital in Interlaken – es sind die gleichen Männer wie vier Jahre zuvor.
Marco Kohler wollte es zu gut machen
Nach dem Sturz fällt Kohler tief, sehr tief. Er weiss, dass nun alles wieder von vorn beginnt, der Schmerz, die Rehabilitation, die Unsicherheit. Er liegt noch im Renndress im Spital, als sein Athletikcoach Roland Fuchs mit einem Aufbauprogramm in den Händen in sein Zimmer tritt und ihm gleich eine Perspektive aufzeigt: Mit den Schwingern um König Kilian Wenger und Seriensieger Fabian Staudenmann, die ebenfalls im Kraftraum in Wilderswil trainieren, könne er nun für einmal ins Frühlingscamp nach Gran Canaria reisen.
Vom Kreuzbandriss hat sich Kohler relativ rasch erholt, die Ränge 9 und 15 zuletzt in den Abfahrten von Bormio und Beaver Creek sind in Anbetracht der Umstände verblüffend. Mittlerweile 27, hat er aber noch immer keine komplette Weltcupsaison absolviert. So frustrierend es ist, so sehr versucht er, sich deswegen nicht zu stressen. Es gebe nun mal verschiedene Karrierewege, sagt Kohler. In seinem ist offenbar keine Abkürzung vorgesehen.
Immer wieder hat er sich die Frage gestellt, ob der letzte Sturz in Wengen vermeidbar gewesen wäre, ob er übermotiviert zur Sache ging. Vor seinem Start hat er die Triumphfahrt von Marco Odermatt gesehen, «das gab mir einen Schub – ich wollte allen zeigen, dass ich es auch kann». Er habe es zu gut machen wollen, sagt Kohler, der bis zum Unfall auch schnell unterwegs war.
Es gibt Fahrer, die sich nicht stürzen sehen können, sie wollen nur vergessen. Auch Kohler hat seinen Sturz aus der Erinnerung gelöscht, oder besser: den Film überspielt. Dass er sich die Aufnahmen gefühlt hundertmal angesehen hat, mag irritieren, doch nur so ist es ihm gelungen, einen nüchternen Umgang mit der Thematik zu bekommen. Im Kopf ist er den Lauf wieder und wieder gefahren, beim Visualisieren erreicht er das Ziel, kommt gesund an. Er sagt: «Sehe ich mir die Bilder heute an, wirkt es auf mich, als wäre es jemand anderes.»
Odermatt steht Kohler als Ratgeber zur Seite
Auf die Frage, ob er überlegt habe, die Lauberhornrennen auszulassen, erwidert Kohler, er sei der Typ, der sich Herausforderungen stelle. Noch letztes Jahr sprach er in Wengen ausführlich übers Geschehene, nun will er sich zurückhalten, sich nicht noch mehr als ohnehin schon nötig mit der Vergangenheit beschäftigen. Selbstschutz nennt er das. Wer kann es ihm verdenken.
So gut es geht, will er sich ablenken in diesen Tagen, da helfen die Teamkollegen, vorab Odermatt, sein Markenkollege bei Stöckli und enger Jugendfreund. Einst besuchten sie die Sportmittelschule in Engelberg, Kohler erzählt, wie Odermatt ihn bei der Aufnahmeprüfung in einem Berglauf stehen liess, «da realisierte ich, dass es noch mehr Einsatz braucht». Lange sei Kohler mindestens auf dem Niveau von Odermatt gewesen, sagt Franz Heinzer, der Abfahrtsweltmeister von 1991, doch bereits vor den Stürzen warfen ihn das Pfeiffersche Drüsenfieber sowie eine chronische Rheumakrankheit zurück.
Odermatt sei ein wichtiger Ratgeber, sagt Kohler, für den auf den Abfahrten dieser Welt noch immer vieles neu ist. Der Gesamtweltcupsieger lobt seinen Copain für seine schnellen Comebacks. «Wie er jeweils gleich wieder Spitzenergebnisse einfährt, ist faszinierend.» Nach der letzten Saison waren die beiden gemeinsam in den Kurzferien in Österreich, sie flogen auch schon nach Mexiko, Costa Rica, Indonesien. Während eines Urlaubs lernte Kohler seine Freundin kennen, es war Odermatt, der ihn animierte, einen Schritt auf diese zuzugehen.
Italiens Skilegende Kristian Ghedina sagte zuletzt in Gröden, Kohler sei wohl einer der meistunterschätzten Abfahrer, er werde sicher noch Rennen gewinnen. Darum geht es nicht in Wengen, es reicht wohl schon, die Tage heil zu überstehen. Tränen sollen nur noch aus Freude fliessen. Oder aus Erleichterung.
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