Wetter und PsycheLöst der Föhn wirklich Kopfweh und Migräne aus?
Thomas Müller von der Privatklinik Meiringen erforscht, wie das Wetter der Psyche zusetzt. Der Klimawandel fordere uns mental heraus, sagt er.
Wenn im Herbst aufziehender Nebel und die frühe Dunkelheit aufs Gemüt drücken, dann müssten sich die Psychiatrischen Kliniken eigentlich füllen. Nimmt man jedenfalls an.
So ist es aber offenbar nicht.
Der Ansturm ist vielmehr hoch, wenn die Temperatur sprunghaft ansteigt. «Während der Hitzewellen dieses Sommers war unsere Klinik immer voll», sagt Thomas J. Müller, ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen. «Die Hitze macht die Menschen angespannter und gereizter.»
Müller stellt nicht in Abrede, dass es eine Herbstdepression und einen Winterblues gibt. «Viele Leute reagieren auf die dunkle Jahreszeit», sagt er. Mehr noch als durch anhaltend trübe Tage werde die Psyche aber «durch extreme Wetterwechsel und Hitzeausschläge gestresst». Müller leitet das nicht einfach von einem kurzen Blick auf den Belegungsgrad seiner Klinik ab. Er hat es vielmehr systematisch untersucht.
Der Psychiater, der auch als Titularprofessor an der Universität Bern wirkt, ist ein Experte für das Zusammenspiel von Wetter und Psyche. Auf diesem Forschungsfeld gehört er zu den Schweizer Pionieren. Im vergangenen Oktober publizierte er gemeinsam mit einem Team, dem auch ein Meteorologe angehörte, eine für die Schweiz ganz und gar neue Studie.
Mehr Klinikeintritte bei Hitzeschub
Dafür glich Müllers Team die täglichen Eintritte in die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) über den langen Zeitraum von 1973 bis 2017 mit der jeweiligen Durchschnittstemperatur ab. Sie differenzierten dabei nach Alter, Geschlecht und Diagnose der eintretenden Patientinnen und Patienten.
«Ein Temperaturanstieg von 10 Grad erhöht die Zahl der Hospitalisierungen um 4 Prozent.»
Das Fazit: Ein Temperaturanstieg von 10 Grad erhöht die Zahl der Hospitalisierungen jeweils um 4 Prozent. Die Eintritte nahmen vor allem in der zweiten Untersuchungsperiode ab 1990 zu – also in jener Phase, in der die Klimaerwärmung immer deutlicher spürbar wird.
«Hitzeempfindlich sind vorab die besonders Verletzlichen», sagt Müller, «also langjährige psychisch Erkrankte und Menschen, die unter Schizophrenie, Depression oder Altersdemenz leiden.»
Dass Hitzeschübe der Psyche zusetzen, erkannte Müller im milden März des Hitzesommers 2003. Den damaligen Oberarzt der UPD Bern erstaunte, dass nicht weniger als 30 Betten der Klinik leer waren. Mit dem ersten von mehreren Hitzeschüben mit Temperaturen von manchmal fast 40 Grad aber war die Klinik «auf einmal rappelvoll», erinnert sich Müller.
Föhnstudie im Haslital
Nun hat er zusammen mit anderen erneut das Zusammenspiel von Klinikeintritten und lokaler Wetterlage erforscht. Weil er seit 2017 ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen ist, widmete er sich diesmal einem Wetterphänomen vor der Haustür im Haslital: dem Föhn. In exponierten Tälern verbinden viele mit dem warmen Fallwind aus dem Süden Kopfweh, Migräne oder Gereiztheit.
Während seine Studie über die UPD Bern bis zur Publikation ein Jahr lang in der Schublade lag, wurde die Föhnstudie nun bloss vier Wochen nach der Einreichung im vergangenen August veröffentlicht. Und dies erst noch im renommierten «International Journal of Environmental Research and Public Health». «Noch nie wurde eine Studie von mir so schnell publiziert, Klima und Psyche ist mittlerweile ein Trendthema», sagt Müller.
Diesmal glich Müllers Team alle Meiringer Klinikeintritte und -austritte von 2013 bis und mit 2020 ab mit einem Föhnindex. Dieser beschreibt, wie lange der Föhn an einem Tag jeweils wehte. Für die über 10’000 Ein- und Austretenden füllte das Klinikteam eine kurze Checkliste mit Symptomen aus. Dazu gehörten etwa Depressivität, Ängstlichkeit, Phobien oder Aggressivität.
Die Erkenntnis: Bei den Eintretenden gab es im Schnitt bis zwei Tage nach einer Föhnlage deutliche Symptome. Für die Austretenden aber war der Föhn, auch wenn er stark wehte, kein Stress- oder Risikofaktor mehr. Müller vermutet, dass die stationäre Behandlung in der Klinik die Patienten und Patientinnen zu stabilisieren vermochte.
Umstrittene Wetterfühligkeit
Ob der Föhn wirklich die Gesundheit beeinträchtigen kann, ist umstritten. Dass uns der warme Wind mittels Druckschwankungen, elektromagnetischer Strahlung oder Ionenkonzentration zusetze, ist eine nicht belegte Vermutung. In der kanadischen Provinz Alberta berichteten 79 Prozent der Personen, die ein Migränetagebuch führten, von einer Verschlimmerung der Symptome an Tagen, an denen der warme Chinook-Fallwind wehte. Analoge Kopfschmerztagebücher aus Wien aber ergaben keinen signifikanten Zusammenhang zur jeweiligen Wetterlage.
Beim Einfluss des Föhns geht es um das umstrittene Phänomen der Wetterfühligkeit. Das sei kein eindeutiges medizinisches Phänomen, sagt Psychiater Thomas Müller. Die individuelle Wahrnehmung und Sensibilität spiele dabei eine wichtige Rolle. Erforscht wird die Wetterfühligkeit mittels Umfragen.
Jene der Ludwig-Maximilians-Universität München ergab 2002, dass 20 Prozent der Befragten einen starken Einfluss des Wetters auf ihre Gesundheit verspüren, 35 Prozent zumindest einen gewissen Einfluss. Fast die Hälfte aber stellt keinen Einfluss des Wetters fest. 70 Prozent der Befragten halten vorab Kopfschmerzen für wetterabhängig. Mit abnehmender Zustimmung folgen dann Erschöpfung, Müdigkeit, Gelenkschmerzen, Gereiztheit, Schlafstörungen oder depressive Verstimmungen.
Die Befragten fühlen sich unterschiedlich betroffen vom Wetter. Frauen sprechen deutlich stärker darauf an als Männer. Auch junge Erwachsene sowie Leute im hohen Alter und Chronischkranke halten sich für wetterfühlig.
Weil sich die Wetterfühligkeit nicht messen lässt, ist es immerhin aussagekräftig, Hospitalisierungszahlen mit Wetterlagen abzugleichen. So wie es Thomas Müller tut. Nach diesem Prinzip hat er jüngst zusammen mit Ana Maria Vicedo vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern die 24’067 Suizide in der Schweiz von 1995 bis 2016 untersucht. Die Studie wurde im vergangenen März in der Zeitschrift «Swiss Med Weekly» publiziert.
Darin werden die Suizide nach Regionen und Altersgruppen unterschieden und mit der jeweiligen mittleren Tagestemperatur verglichen. Die Haupterkenntnis: Mit steigenden Temperaturen steigt das Suizidrisiko um bis zu 34 Prozent. Bei Frauen sowie bei Personen unter 35 und über 65 Jahren ist das Risiko an heissen Tagen grösser.
Klimawandel stresst Psyche
Das Zusammenspiel von Hitze und psychischem Stress ist für Thomas Müller ein erster Schritt auf ein noch wenig erforschtes, grosses Feld. Es geht um den Einfluss des Klimawandels auf die mentale Gesundheit. Als er im Jahr 2007 scheu bei den Meteorologen am Geografischen Institut der Universität Bern angeklopft habe, habe das Zusammenspiel von Wetter und Psyche kaum Beachtung erhalten. «Mittlerweile weckt es immer mehr Aufmerksamkeit», sagt Müller.
Müller hat eruiert, dass in den letzten zehn Jahren weltweit fast 500 Studien über Klimawandel und Gesundheit erschienen sind. Etwa jene in Australien, die in der jüngsten Periode von Klimaextremen wie Dürre und Hochwasser die mentale Gesundheit von Farmern untersuchte.
Deren wachsendes Gefühl, einen aussichtslosen Kampf gegen das Klima zu führen, schlug sich nicht zuletzt in einer deutlich erhöhten Suizidrate nieder. Studien aus Indien und Kenia zeigen, dass die durch die Dürre Vertriebenen an Entwurzelung oder Sucht leiden.
Ein neuerer Antreiber von psychischem Stress ist mittlerweile die Ohnmacht vor dem Klimawandel. Vor allem junge Menschen suchen psychologischen Rat wegen ihrer Klimaangst.
Eine besondere Herausforderung sei, dass Hitzewellen die Kosten der Gesundheitsversorgung erhöhen könnten, warnt Müller: So zeigte eine Studie zum Hitzesommer 2015, dass die Aufnahmezahlen bei den Notfallstationen der Schweizer Spitäler an Tagen mit Extremtemperaturen sprunghaft anstieg.
«Die Aufenthaltsdauer in Kliniken und der Verkauf von Psychopharmaka könnten zunehmen», vermutet Müller. Bald brauche es vielleicht mehr gekühlte Räume. Oder Warnsysteme für drohende Hitze – nach dem Vorbild der Unwetterwarnungen in den Meteonews.
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