Live-Sex am TheaterViel nackte Haut, wenig künstlerischer Mehrwert?
Aber trotzdem kein Grund zur Aufregung: Das Festival Porny Days ist am Schauspielhaus Zürich zu Gast, und wir haben hingeschaut.

August Strindbergs «Fräulein Julie» wurde 1888 am Tag vor der Uraufführung von der Zensurbehörde verboten. Dabei findet der Sex zwischen dem feinen Fräulein und dem Knecht nur im Off statt, in der Fantasie des Publikums, er wird nicht einmal direkt benannt. Jetzt dagegen läuft bereits zum elften Mal in Zürich das Porny-Days-Festival, unterstützt von Migros-Kulturprozent, Stadt und Kanton und zahlreichen Stiftungen – und erstmals macht auch das Schauspielhaus mit. So zeigten am Freitag im Schiffbau zwei professionelle Sexarbeiterinnen und Performerinnen live, wie sie ihren Beruf verstehen und ausüben; zudem kritisierte eine äusserst explizite Video-, Musik- und Textinstallation traditionelle Familienkonzepte.
«Wir freuen uns sehr, Gastgeber für das Festival zu sein», sagte Schauspielhaus-Dramaturg Bendix Fesefeldt zur Begrüssung in der Matchbox. Ein rechtskonservatives Schundblatt habe die Teilnahme des Hauses im Vorfeld schlechtgeredet. Dabei sei Theater ja grundsätzlich nichts ohne Erotizismus, jeder Künstler wisse das, wenn er seine Scham überwinde und sich auf der Bühne ins spielerische Zusammensein hineingebe. Auch als Zuschauer spüre man immer wieder dieses Knistern, diesen erotischen Konnex zwischen Publikum und Ensemble.
Co-Intendant Benjamin von Blomberg doppelte auf Anfrage nach: «Als ich während meiner Vorbereitungszeit auf die Intendanz hier war, habe ich das Eröffnungsfestival der Porny Days besucht. Ich war von Beginn an begeistert von der warmen, integrativen Atmosphäre des Festivals. Seit über zehn Jahren setzen sich die Porny Days für Body-Positivity, Sex-Positivity, Intersektionalität und Diversität ein. Hinter diesen Anliegen stehen wir voll.» Die Programminhalte sowie die Aufteilung auf die Spielstätten verantwortet das Festival allerdings selbst, nicht der Gastgeber.

Braucht es so einen Rechtfertigungsfuror überhaupt? Als Eva Mattes 1976 in Peter Zadeks «Othello»-Inszenierung als Desdemona nackt über die Wäscheleine geworfen wurde, war das noch ein handfester Theaterskandal. Doch inzwischen haben wir auf der Bühne unbekleidete Körper sonder Zahl gesehen. Was in der radikalen Performance-Kultur der Siebziger begann, feierte, mit wechselnden Vorzeichen, immer wieder fröhliche Urstände. Mal ging es schlicht um schockierenden Tabubruch, mal um atemberaubende Direktheit, mal um eine gesellschaftskritische Konfrontation mit nackten Tatsachen: Ein Kornél Mundruczó etwa hielt in seinen Inszenierungen der 2010er nicht mit sexualisierter Gewalt zurück (auch in Zürich), ein Daniel Hellmann baute für seine brutal buchstäbliche Kritik an der Käuflichkeit des Körpers eine Verrichtungsbox, ein Benny Claessens choreografierte am Theater Neumarkt Geschlechterrollen-Gymnastik im Adams- und Evakostüm.
Post-#MeToo wiederum werden die Machtverhältnisse und ihre Folgen sowieso stets mitgedacht; und nackte Körper sind – trotz der neuen Prüderie, die in der westlichen Welt Einzug gehalten hat – hierzulande eh kein Aufreger mehr. Regisseurin Yana Ross hatte darum schon 2021 professionelle Pornodarsteller samt obligatem Intimacy-Coach in den Schiffbau geholt für ihre knalligen «Kurzen Interviews mit fiesen Männern», weil sie, wie sie erklärte, Sex auf der Bühne als Erweiterung der Grenzen verstand und als Verbindung mit dem Publikum im sicheren Theaterraum. Der Funke hatte freilich nicht so recht überspringen wollen.

Das tut er auch diesmal nicht, in der sympathisch harmlosen Lecture-Performance «Gaze.S» der Französinnen Marianne Chargois, die BDSM als semipsychiatrische Heilkunst praktiziert, und Romy Alizée, die als einschlägige Fotografin arbeitet und in queeren Pornofilmen mitwirkt. Sie sitzen gemeinsam am Rednerpult und erläutern ihren Weg zur befreiten – und, notabene, befreienden! – Sexarbeit mit hochtheoretischen Ausführungen. Diese beziehen sich auf Sigmund Freud, auf Howard Beckers «Outsiders» (1963) und die Schriften von Emilie Notéris.
Zwischendurch gibt es etwa eine Fotosession, bei der Alizée sich einen präparierten Mini-Eiffelturm vaginal einführt, und Filmausschnitte aus Chargois’ Domina-Interaktionen mit Kunden, inklusive Fäkalienproduktion auf Befehl. Selbige löse, wie Chargois berichtet, psychische und physische Läuterungsexplosionen aus. Als finale, pardon, Klimax, zieht sich die Domina einen Gummi-Handschuh über und demonstriert an ihrer enthusiastischen Partnerin einen «Fistfuck» (bitte selbst googeln). Dazu wird musikalische Untermalung gereicht, teils auch Livegesänge der Damen. Das Ganze hat den Charakter eines intellektuell aufgebrezelten, akrobatisch angehauchten beherzt blutten Variétés.

Richtig interessant daran ist höchstens, wenn die Frauen beschreiben, wie schwierig es für sie war, sich vom Umfeld abzunabeln – und wenn die Stimmen weiterer Sexworkerinnen hineingeschnitten werden. «Wir sollten unsere Repräsentation in den Künsten selbst gestalten», fordert die eine. Es schnüre ihr regelmässig die Kehle zu, wenn stereotype Hurendarstellungen heruntergerissen würden. Eine andere will mehr Normalität: Nach zehn Jahren Sexarbeit habe sie in eine Bäckerei gewechselt, das eine wie das andere sei total in Ordnung. Eine dritte spricht der Sexarbeit eine transformative Kraft zu durch ihre Möglichkeit zu Verwandlungen. «Ich möchte eine ‹révolution pute›, durch unseren Blick.»
«Wir leben ein zauberhaftes Märchen.»
Den Schritt ins Politische haben die zwei Künstlerinnen spätestens mit der Schaffung von Öffentlichkeit gewagt; mit «Gaze.S» waren sie bereits 2021 auf Tour. Und damit gingen sie auch den Schritt ins persönliche Glück, wie sie augenzwinkernd singen: «Wir leben ein zauberhaftes Märchen.»
Dass jedoch die Realität für viele Sexarbeitenden komplett anders aussieht, kam in der Lecture-Performance nicht zur Sprache. Dafür schlug uns in der Videoinstallation der genderfluiden US-Künstlerin Terre Thaemlitz das bittere Thema «Prostitutionsinstitution Ehe» entgegen: «Deproduction» haut den Besuchern Textfetzen über furchtbare Geburten und schlimme Familienverhältnisse um die Ohren, während über die Leinwand ein minimal kaschierter Sexakt nach dem anderen flimmert, bewusst unerträglich monoton, von der Masturbation bis zur Vergewaltigung. Dauerstöhnen inbegriffen. Eine potenziell deutlich verstörendere Session als das muntere Herumgemache der Französinnen.
Muss das alles sein? Was bringt die erneute Renaissance der Blösse auf der Bühne, besonders im Zeitalter des ubiquitären Internet-Porns? Das fragte sich jüngst auch das internationale Feuilleton, als der französische Tänzer und Choreograf Boris Charmatz 50 Jahre Tanztheater Wuppertal (Pina Bausch) in wilder Nacktheit zelebrierte.

Die beiden ersten Porny-Days-Darbietungen im Schiffbau hatten durchaus einen Mehrwert, wenn auch nicht unbedingt einen künstlerischen. Nein, damit spielen wir nicht auf die unvermeidlichen Theaterspanner an, die Nacktheitspriesterinnen wie die österreichische Choreographin Florentina Holzinger erklärtermassen in Kauf nehmen. Sondern darauf, dass Theater sich als Orte gerieren, die gesellschaftliche Realität und gerade auch die Randzonen verhandeln – dies seit einiger Zeit am liebsten mit den authentischen Protagonistinnen und Protagonisten. Das reicht vom «Experten»-Partizipationstheater à la Rimini Protokoll in den Nuller- und Zehnerjahren über strikte Diversitätsvorgaben bei der Rollenbesetzung bis, eben, zum Engagement von Profiprostituierten.
Ausführliche Triggerwarnungen auf der Website und mündlich vor den Vorstellungen schützen dabei das nichts ahnende Publikum – welches es aber, vermutlich, überhaupt nicht gibt. Die Zuschauenden kommen, weil sie vom Sexspektakel irgendetwas mitnehmen wollen: Überraschung über die frisch-fröhliche Selbstbestimmtheit der Sexworkerinnen («Gaze.S»), Entsetzen über die Schrecken, die Familienrudel und Schwangerschaften mit sich bringen können («Deproduction»). Vorsicht, Triggerwarnung: Die Kunstekstase als solche bleibt aus. Und Sex ist im Off oft heisser.
Festivalprogramm: https://pornydays.love/festival-program
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