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Machtkampf in Weissrussland
«Liebe zu unserem Land oder Gehorsam zum System»

«Ich wollte nie Politikerin werden»: Swetlana Tichanowskaja vor den Medien in Vilnius.
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Der Auftritt in Litauens Hauptstadt Vilnius war ein kurzer, aber ein mit Spannung erwarteter: Zum ersten Mal nach ihrer Flucht aus der Heimat vor elf Tagen stellte sich die weissrussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja der Öffentlichkeit. Das Volk, prophezeite Tichanowskaja heute in einer Medienkonferenz in einem grossen Hotel, werde Präsident Alexander Lukaschenkos Führung «niemals wieder akzeptieren». Die Menschen könnten Lukaschenko «die Gewalt nicht vergeben», die sein Regime gegen friedliche Demonstranten ausgeübt habe.

Sicherheitspersonal der litauischen Polizei war schon Stunden vor Tichanowskajas Ankunft vor dem Hoteleingang postiert. Schliesslich sollte hier die Frau sprechen, die viele für die wahre Siegerin der weissrussischen Wahlen vor knapp zwei Wochen halten, sie selbst eingeschlossen. Keine zwei Tage nach der manipulierten Abstimmung war sie nach Vilnius geflüchtet. Dort drängelten sich heute im Konferenzsaal ohne viel Rücksicht auf Corona-Sicherheitsabstand Reporter aus aller Welt, ein lautstark schimpfender Lukaschenko-Anhänger wurde am Ende der Medienkonferenz aus dem Saal geleitet.

«Ich möchte zurückgehen, wenn ich mich sicher fühle»

Tichanowskaja ist Menschenmassen aus dem Wahlkampf in Weissrussland gewöhnt. Schon da konnte sie Zehntausende mobilisieren, auch wenn sie immer wieder betont hat, dass es so nie geplant war. «Ich wollte nie Politikerin werden», beginnt sie auch diesen Auftritt. Das Schicksal habe ihr aber nun diese Rolle gegeben. Ein jeder Mensch in Weissrussland stehe nun vor der «Wahl zwischen Freiheit und Angst, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen der Liebe zu unserem Land und dem Gehorsam zum System».

Sie selbst hat sich bereit erklärt, in einer Übergangsphase die politische Führung zu übernehmen. Aber wie, wenn sie nicht im Land ist? In den vergangenen Tagen hat sie in Videobotschaften zu ihren Anhängern gesprochen. «Ich möchte zurückgehen», sagte die 37-Jährige nun in Vilnius. Aber erst, «wenn ich mich dort sicher fühle». Auf andere Fragen antwortete sie ausweichend, über Details ihrer Flucht, über mögliche Drohungen gegen sie oder ihre Familie wollte sie nicht sprechen.

«Jede Person in unserem Land fühlt Angst», sagte sie. «Aber es ist unsere Aufgabe, diese Angst zu überwinden.» Als ihre unmittelbaren Ziele nannte sie ein Ende der Gewalt, die Freilassung der politischen Häftlinge. Vor allem aber müsse es Neuwahlen geben: «frei, ehrlich und transparent». Doch auch die Frage, ob sie bei solchen Neuwahlen erneut antreten würde, liess sie offen.

«Ich bin voller Dankbarkeit für alles, was sie getan hat. Sie ist eine Heldin für uns.»

Maria Kolesnikowa über Swetlana Tichanowskaja

Vor einigen Tagen hat Tichanowskaja einen Koordinierungsrat der Opposition gegründet, der das Land zu demokratischen Wahlen führen soll. Bis zu 70 Prominente und Experten sollen teilnehmen, offenbar gab es noch weit mehr Bewerbungen. Es sei unmöglich, alle aufzunehmen, sagte Tichanowskajas Anwalt Maxim Znak, der zum Rat gehört. Dieser traf sich zunächst ohne seine politische Anführerin in Minsk. Und während Tichanowskaja ihre Medienkonferenz gab, musste Anwalt Znak vor einem Untersuchungsausschuss in Weissrussland aussagen.

Machthaber Lukaschenko hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Rat als «Versuch der Machtübernahme» betrachte. Nun wird gegen seine Mitglieder ermittelt, bei Verurteilungen drohen bis zu fünf Jahre Haft. Der Rat «untergrabe die nationale Sicherheit von Weissrussland», sagte Generalstaatsanwalt Alexander Konjuk, er sei verfassungswidrig.

Ermittlungen gegen Oppositionelle: Alexander Konjuk, Generalstaatsanwalt Weissrusslands.

Tichanowskaja weiss, dass der Druck auf ihre Anhänger in Weissrussland nach elf Protesttagen weiter steigt. Vor allem der Streik der Arbeiter bringt Lukaschenko in Bedrängnis. Er war Anfang der Woche beim Besuch eines Fahrzeugherstellers sogar ausgebuht worden. Nun bedrängen Betriebsleiter die Streikenden, an manchen Orten hat die Polizei Demonstrationen vor Fabriken aufgelöst. Heute appellierte Tichanowskaja in einer Videobotschaft an die Arbeiter, die Streiks «fortzuführen und auszuweiten» und sich nicht einschüchtern zu lassen. Streiks seien eine «absolut legale und mächtige Waffe» gegen das Regime. Sie hätten die «Diktatur eingeschüchtert», und deswegen spürten die Arbeiter nun diesen enormen Druck.

Auch wenn sie selbst nicht darüber sprechen möchte, hat sie diesen Druck am eigenen Leib gespürt. Ihr Ehemann, der 41-jährige regierungskritische Videoblogger Sergei Tichanowskij, sitzt bereits seit Mai in Haft. Nach einem anonymen Drohanruf brachte die Oppositionelle ihre beiden Kinder, vier und zehn Jahre alt, zur Sicherheit ins Ausland. Nach ihrer eigenen Flucht tauchte ein Video von ihr auf, zu dem sie offenbar gedrängt worden war. Sie ruft darin die Weissrussen dazu auf, nicht mehr auf die Strasse zu gehen. Mehrere Mitarbeiter von ihr sitzen weiterhin in Haft.

Mitstreiterin setzt Demokratiekampagne fort

In Weissrussland führt nun unter anderem ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa die Demokratiekampagne für sie weiter. Kolesnikowa hatte zuvor den Wahlkampf von Wiktor Babariko geleitet, der wie Tichanowskajas Ehemann als verhinderter Kandidat in Haft sitzt. Der Stab des früheren Bankmanagers Babariko galt von Anfang an als organisierter, professioneller als der des Bloggers. Er stellte sich auch deswegen hinter Tichanowskaja, weil sie als einzige unabhängige Kandidatin antreten durfte.

Wie eng der Kontakt nun zwischen den Teams in Minsk und Vilnius ist, ist unklar. «Ich bin voller Respekt und Dankbarkeit für alles, was sie in den letzten drei Monaten getan hat», sagte Kolesnikowa über die Geflüchtete. «Sie ist eine Heldin für uns.»

Und wie werden sich die Nachbarn verhalten? Auf die Frage nach möglicher russischer Einflussnahme sagte Tichanowskaja lediglich, sie rufe «alle Länder auf, die Souveränität der Republik Weissrussland zu akzeptieren». Und als ein Journalist sie fragte, welche EU-Sanktionen sie für die sinnvollsten halte, war ihre Antwort dieselbe. Mit dem Zusatz, dass sie allen Ländern danke, die Weissrussland unterstützten.