Machtmissbrauch in LGBTQ-VereinSozialarbeiter hatte Sex mit einem Teenager. Jetzt eröffnet er eine Sexualberatung
Der Leiter eines Schweizer LGBTQ-Treffs führte eine Dreiecksbeziehung mit seinem Mann und einem Jugendlichen. Nun bietet er in einer neuen Praxis Familien- und Sexualberatung an.

- Andreas T. (Name geändert) betreibt seit September eine neue Beratungsstelle in der Ostschweiz.
- Er war Mitgründer des Vereins «Sozialwerk.LGBT+» und hatte eine sexuelle Beziehung zu einem 18-jährigen Besucher.
Das Angebot klingt auf den ersten Blick bereichernd: Er schaffe einen Raum, in dem man seine Partnerschaft und Beziehungen «definieren» und über die eigenen sexuellen Bedürfnisse reden kann. Auch entwickle er gemeinsam Strategien, diese «umzusetzen». Das schreibt Andreas T. (Name geändert) auf der Website für seine Beratungspraxis, die er seit September in der Ostschweiz betreibt.
Auf seinem Onlineauftritt schreibt T., dass für ihn die Beratung von Kindern und Jugendlichen in Partnerschaft und Sexualität immer ein wichtiges Thema war. Er verschweigt aber, dass er als Jugendberater den Verein «Sozialwerk.LGBT+» mitgegründet hat und dort die letzten vier Jahre tätig war. Diese Redaktion deckte im April auf, dass Andreas T. und sein Ehemann dort in einen Missbrauchskandal verwickelt waren. Die Staatsanwaltschaft St. Gallen führt ein Strafverfahren gegen beide wegen Verdachts auf strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität. Dies bestätigt die Staatsanwaltschaft St. Gallen auf Anfrage. Es gilt die Unschuldsvermutung. (Nachtrag vom 8. April 2025, inzwischen ist das Verfahren eingestellt, siehe Fussnote)
Der Ehemann von T. bestätigte gegenüber der Staatsanwaltschaft, dass das Paar im Sommer 2023 eine Dreiecksbeziehung mit dem Teenager Alexander (Name geändert) führte. Alexander, damals 17 Jahre alt, hatte Zuflucht in dem Verein gesucht, nachdem er jahrelang aufgrund seiner Homosexualität beleidigt, beschimpft, gemobbt und sogar körperlich angegriffen worden war.
«Die jungen Leute, die zu uns kommen, sind teils eingeschüchtert, hatten Erfahrung mit Diskriminierung, Mobbing», erklärte T.s Mann die Lage vieler Jugendlicher. Die Treffs standen allen ab 13 Jahren offen und waren ein essenzielles Angebot für queere Teenager in der ländlichen und oft konservativen Region.
Dem 18-Jährigen wurde es «zu viel»
Doch T.s Ehemann, der auch beratend tätig war, führte eine sexuelle Beziehung mit Alexander, als dieser noch 17 war. «Diese Beziehung ist im Juni in eine Dreierbeziehung übergegangen und mein Mann war auch Teil davon», sagte T.s Partner vor der Staatsanwaltschaft.
Alexander wurde damals gerade 18. Andreas T. und sein Ehemann waren beide über 40. Alexander machte nur widerwillig mit. Der Jugendliche «hasste» Andreas T., wie er in den sozialen Medien einmal schrieb. Letztlich sah sich der Teenager gezwungen, die Beziehung zu den beiden 25 Jahre älteren Vereinsleitern selbst zu beenden, da sie ihm «zu viel» wurde, wie es im Protokoll von T.s Ehemann weiter heisst.
In der queeren Szene haben die Vorwürfe für einen Aufschrei gesorgt. Die LGBT-Dachverbände Pink Cross, Lesbenorganisation Schweiz und Transgender Network Switzerland prangerten «den Machtmissbrauch» aufs Schärfste an. Dem «Sozialwerk.LGBT+» sistierten sie die Mitgliedschaft in ihren Verbänden.
Erlaubt, eine Praxis zu eröffnen
Der Skandal hat zum Ausschluss von Andreas T. aus dem Verein geführt, wie T.s Anwalt bestätigt. Im September eröffnete T. dann seine Praxis für Partnerschaft und Sexualität. Dort bietet er namentlich auch Familienberatung an, pro 90 Minuten kostet das 90 bis 150 Franken.
Zu seinem neuen Angebot möchte sich Andreas T. nicht äussern. Sein Anwalt zeigt sich aber zuversichtlich, dass das Verfahren vor der Staatsanwaltschaft St. Gallen «höchstwahrscheinlich» eingestellt werde. Zudem sei es seinem Mandanten erlaubt, eine Praxis zu eröffnen und zu betreiben.
Avenir Social, der Berufsverband Soziale Arbeit in der Schweiz, erklärt jedoch, dass es aus professioneller Sicht keine Rolle spielt, ob eine sexuelle Beziehung mit einem Jugendlichen in einer Beratungssituation laut Gesetz strafbar ist oder nicht. «Unsere Prämisse ist professionelles Verhalten und Nulltoleranz bei Grenzüberschreitungen. Da gibt es keinen Spielraum – auch wenn das strafrechtlich vielleicht anders aussieht», sagte Annina Grob, Co-Geschäftsleiterin von Avenir Social, als der Vorfall aufflog. «Sexuelle Beziehungen im Rahmen eines Beratungsverhältnisses sind in jedem Fall inakzeptabel.»
Sie betonte auch, dass sich die Mitglieder von Avenir Social an den «Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz» halten müssen. Dieser verlangt einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Machtgefälle zwischen Berater und Hilfesuchenden. Der Kodex galt auch für Andreas T.
Er war gemäss Website noch letztes Jahr Mitglied und Teil der Regionalleitung von Avenir Social in Graubünden. Seit dem Sommer ist er dort nicht mehr aufgeführt. Auch auf seiner Website fehlt ein Hinweis auf seine Mitgliedschaft im Verband. Ob er von Avenir Social ausgeschlossen wurde, wollte Andreas T. auf Anfrage nicht kommentieren. Der Berufsverband äussert sich dazu aus Datenschutzgründen nicht. Er bestätigt aber, dass der Begriff Sozialarbeiter nicht geschützt ist und man auch eine Praxis eröffnen könne, ohne Mitglied bei Avenir Social zu sein.
Situation habe der queeren Community geschadet
Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross, dem nationalen Dachverband für schwule und bisexuelle Männer in der Schweiz, zeigt sich «schockiert» von Andreas T.s neuem Angebot. «Eine sexuelle Beziehung mit einem Besucher des Jugendtreffs zu führen, widersprach jeglicher Professionalität – unabhängig davon, ob es zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt. Deshalb standen mir alle Haare zu Berge, als ich von der neuen Praxis erfahren habe», sagt er. Es zeige erstens eine völlige Uneinsichtigkeit und zweitens, dass es in der Schweiz kein System zur Qualitätssicherung für Coachs und zweifelhafte Praxen gebe. «Selbst mit einer solchen Vorgeschichte kann man offenbar in der Schweiz weiter vulnerable Menschen beraten.»
Die Situation rund um das Sozialwerk habe die ganze queere Community in Graubünden verunsichert und ihr geschadet, sagt Judita Arenas, Sexologin und Geschäftsführerin der Fachstelle für Prävention und Beratung der Aids-Hilfe Graubünden. «Die Folgen spüren nicht nur die queeren Personen, sondern auch alle Fachstellen, die sich für queere Themen professionell einsetzen.»
Im Juni hat die Fachstelle die Plattform Queergr.ch ins Leben gerufen, wo Interessierte einen Überblick über queere Angebote und hilfreiche Adressen finden. «Es geht darum, dass die queere Community selbst Projekte gestalten kann und wir sie dabei niederschwellig fachlich unterstützen», erklärt Arenas. Denn das Leben für queere Menschen sei in Graubünden oft mit Unsichtbarkeit, Unsicherheit und erschwerten Zugängen zu Angeboten und Austausch verbunden. «QueerGR setzt ein Zeichen für Veränderung. Ich spüre eine intrinsische Motivation in der gesamten Bündner Queer-Community, dazu beizutragen.»
Nachtrag vom 8. April 2025: Mit zwei Verfügungen vom 3. April 2025 hat die Staatsanwaltschaft St. Gallen das Strafverfahren gegen die beiden Beschuldigten eingestellt. Alexander, der im Treff Zuflucht suchte, hat laut Staatsanwaltschaft ausgesagt, es sei zu sexuellen Kontakten gekommen, als er noch 17 Jahre alt war. Er verzichtete jedoch auf eine Anzeige und sagte, es sei einvernehmlich geschehen. Für Anwaltskosten und Genugtuung erhält Andreas T. rund 8500 Franken.
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