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Meinung

Leitartikel zu den Wahlen 2023
Die falsche Angst vor der 10-Millionen-Schweiz

Die SVP-Nationalraete Manuel Strupler, Thomas Aeschi, Thomas Matter, Kantonsrat Domenik Ledergerber und Mike Egger, von links, sprechen anlaesslich der Lancierung der Nachhaltigkeits-Initiative "Keine 10-Millionen Schweiz, am Dienstag, 4. Juli 2023, in Bern. (KEYSTONE/Peter Schneider)
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Was man nicht alles in die «10-Millionen-Schweiz»-Plakate hineinprojizieren konnte.

Den übervollen 7-Uhr-Zug. Den Stau am Gubristtunnel. Die erfolglose Wohnungssuche. Der Konkurrenzdruck im Job. Das Barackenprovisorium für die Schulkinder. Englischsprachige Bedienung im Szenecafé. Stromknappheit, zubetonierte Natur, Strassenlärm. 

Alles Symptome der Zuwanderung.

Die Kampagne, welche die SVP zum Wahlsieg 2023 führte, ist genial, weil jede und jeder darin Frust und Ängste wiedererkennen konnte: Wer das nicht will, wählt SVP.

Die Lösungen, die die Partei vorbringt, führen allerdings ins Leere. Es sind Fake-Rezepte. Zentrales Element ist die «Nachhaltigkeitsinitiative», mit der die SVP die Schweiz zwingen will, die Zuwanderung bis 2050 zu bremsen. Notfalls durch Kündigung der bilateralen Verträge.

Wiese, Chalet, Geranien und ein paar Schafe

Als könnte man die Schweiz aus dem Kontinent Europa herausschneiden. Ein Land, das 69 Prozent seiner Importe aus der EU bezieht, das aufs Engste mit dem Umland verflochten ist.

Ein solcher Schnitt wäre das Ende der Schweiz, wie sie heute existiert. Eine Schweiz, die auf Offenheit setzt, auf Tourismus, auf ihre Unis, auf eine Wirtschaft, die von bestens ausgebildeten «Wissensarbeitern» lebt.

Die SVP hat nie aufgezeigt, wie ihr Gegenmodell aussieht. Was passieren würde, wenn man tatsächlich zum Schnitt ansetzte. Auf der Website der Nachhaltigkeitsinitiative endet die Argumentation mit einer Illustration einer Alp: Wiese, Chalet, Geranien und ein paar Schafe. Mehr ist da nicht.

Echter Schmerz

Wenn die SVP-Route derart in die Irre führt – weshalb spricht sie so viele Schweizerinnen und Schweizer an? Aus zwei Gründen: Weil die SVP ein reales Problem antippt und weil sich die anderen Grossparteien wegducken. 

Die Schweiz ist eines der am schnellsten wachsenden Länder Europas. Über 1,5 Millionen Menschen sind in den letzten zwanzig Jahren ins Land gekommen und geblieben. Das ist einmal der Kanton Zürich.

Manche der eingangs genannten Probleme haben tatsächlich mit der Zuwanderung zu tun: vom Wohnungsmangel in den Städten bis zu überlasteten Zugrouten.

Was dahintersteckt

Zugleich altert die einheimische Bevölkerung. Es leben bald mehr Leute über 65 Jahren als Junge unter 18 Jahren im Land. Und die Babyboomer-Generation geht in Rente. Jede Demografin, jeder Demograf stellt dieselbe Diagnose: Es fehlt an gut ausgebildeten jungen Leuten. Und es wird schlimmer.

Weitaus mehr als die Hälfte der Zugewanderten ist in den letzten zwanzig Jahren via Personenfreizügigkeit aus EU-Staaten hierhergekommen. Das Land braucht diese Leute, die unter anderem in der Pflege arbeiten, in der Gastronomie, im Tourismus, auf Baustellen. Firmen suchen händeringend nach guten Arbeitskräften. Dieser Bedarf ist der stärkste Treiber der Zuwanderung.

Mehr noch: Es kann sein, dass diese Zuwanderung angesichts der Alterung und der sinkenden Geburtenzahlen bald nicht mehr reichen wird, um die Gesellschaft in der Balance zu halten. Fachkräfte sind in ganz Europa knapp. Was nun gefragt ist: eine aktive Migrationspolitik, die Menschen auch von weiter weg gezielt ins Land holt. Zum Beispiel mit Rekrutierungsabkommen, wie das Deutschland macht. 

Und natürlich sollte alles getan werden, damit die Schweizerinnen und Schweizer ihr Arbeitspotenzial ausschöpfen können, um den Fachkräftemangel zu dämpfen.

Ausländer willkommen

Trotzdem drucksen die Parteien herum, wenn es um das Thema geht. 

In FDP-Positionspapieren findet man zwar ein klares Bekenntnis zum bilateralen Weg der Schweiz – und die nüchterne Diagnose, dass bis 2040 der Schweiz eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen. Auch die SP fordert, man solle Ausländerinnen und Ausländer willkommen heissen.

Aber wann hat letztmals ein Politiker diesen Satz laut ausgesprochen? Und dann laut weitergedacht: Was bedeutet diese Zuwanderung ganz konkret für die Schweiz? Was heisst das für die kollektive Psyche der Bevölkerung? Soll es Schwellen geben, bei deren Überschreitung man versuchen muss, das Tempo zu drosseln? Wie geht das, ohne gleich die bilateralen Verträge zu kappen?

Und was heisst das alles langfristig, über die 10-Millionen-Schwelle hinaus?

Die kommende Europadebatte

Die Wahlen haben gezeigt, wie stark das Thema die Bevölkerung umtreibt. Und es wird nicht verschwinden. Wir stehen vor einer grossen Europadebatte: Früher oder später werden die EU und die Schweiz klären müssen, wie sie zueinander stehen. Und es ist schwer vorstellbar, dass ein Vorschlag dazu nicht vors Volk kommt. Ansonsten wird spätestens die Abstimmung über die SVP-Nachhaltigkeitsinitiative eine Klärung indirekt erzwingen.

Welchen Fortgang die Gespräche mit der EU auch immer nehmen: Zugang zum europäischen Binnenmarkt wird es für die Schweiz nur mit der Personenfreizügigkeit geben. Wir brauchen diese Combo, um das Modell Schweiz stabil zu halten.

Was die SVP anders sieht. Sie wird weiter gegen die 10-Millionen-Schweiz wettern, und es wird zünden. 

Spätestens bei der Abstimmung über die Nachhaltigkeitsinitiative müssen darum die Argumente aus anderen politischen Lagern breit verankert sein. Warum es gut ist, dass – vor allem jüngere! – Menschen aus anderen Ländern hierherkommen und sich hier ein neues Leben aufbauen. Warum Zuwanderung nicht nur ein Problem ist, sondern vor allem auch eine Lösung. 

Aber es müssen auch Antworten auf die Frage bereitliegen, wie die Schweiz mit den Folgen des Wachstums umgeht. 

Wenn das nicht passiert, wird die SVP die Schweiz weiter vor sich hertreiben, in Richtung eines Trugbilds: Wiese, Chalet, Geranien und ein paar Schafe. Mehr ist da nicht.