Interview zu Randale«Lausanne ist mit den Pariser Banlieues in nichts vergleichbar»
Jugendliche haben am Samstag ein Geschäft des Westschweizer Schuhunternehmers Guillaume «Toto» Morand verwüstet. Morand sagt: «Die Attacken sind mir ein Rätsel.»
Herr Morand, die sozialen Unruhen haben in der Nacht auf Sonntag von Frankreich nach Lausanne übergegriffen. Jugendliche haben versucht, in Ihr Schuhgeschäft Pomp it Up einzudringen. Wie ordnen Sie das Geschehen ein?
Die Jugendlichen haben gesehen, wie Gleichaltrige in Frankreich in Geschäfte eindrangen und das klauten, was sie gerne haben: Schuhe und elektronische Geräte. Das hat wohl ihre Fantasie angetrieben, dafür zu sorgen, dass sich in Lausanne dieselben Szenen abspielen.
Sie wollten also nicht den Tod des 17-jährigen Nahel rächen, der von einem Polizisten erschossen wurde?
Nein. Darum ging es in Lausanne nicht. Es ging den sehr jungen Leuten darum, sinnlos Gewalt anzuwenden und Schaufenster zu zertrümmern. Ich schliesse nicht aus, dass selbst Kunden von uns darunter waren. Ich denke, die jungen Leute waren sich nicht bewusst, dass es im Quartier Flon überall Kameras gibt. Die Polizei wird die Bilder nun auswerten. Die Chancen sind gross, dass die Justiz noch mehr Täterinnen und Täter identifiziert. An die Konsequenzen haben die Jugendlichen mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht gedacht.
Wenn die Jugendlichen in Lausanne nicht Nahels Tod rächen wollten, was wollten sie dann? Frust abbauen und auf ihre soziale und ökonomische Situation aufmerksam machen?
Die Jugendlichen stammen aus schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Das ist klar. Aber die Verhältnisse in Lausanne oder anderswo in der Romandie sind in nichts vergleichbar mit den Verhältnissen in den Pariser Banlieues. Dort haben die Jugendlichen oft keine Chancen auf Jobs, und es gibt grosse Probleme mit Drogen und physischer Gewalt. Wer in Lausanne einen Tag lang arbeitet, kann sich danach ein Paar Schuhe kaufen. Das kann man in Frankreich nicht. Unser Sozialstaat kümmert sich in einer ganz anderen Weise um die Jugendlichen. Er schaut, dass sie in der Arbeitswelt Fuss fassen.
Sie sehen also kein Motiv.
Nein. Für mich sind die Ausschreitungen absolut absurd. Die Jugendlichen haben wohl einfach einen Adrenalinschub gebraucht.
«Bei einer Meute von 100 Leuten ist das nicht einfach, einzugreifen.»
Die Angriffe passierten um 22 Uhr abends. Das Ausgehquartier Flon war voller Leute. Hat niemand eingegriffen?
Bei einer Meute von 100 Leuten ist das nicht einfach. Neben meinem Schuhgeschäft gibt es ein Restaurant. Die Jugendlichen wollten auf der Terrasse die Tische klauen, um mit den Tischen meine Schaufenster zu zertrümmern. Das hat der Geschäftsführer zum Glück verhindern können und die Polizei alarmiert. Die Gäste flohen derweil ins Restaurant hinein. Wenn die Jugendlichen um 2 Uhr morgens zugeschlagen hätten und nicht um 22 Uhr abends, hätten sie wohl noch grössere Schäden anrichten und Geschäfte plündern können.
Befürchten Sie weitere Ausschreitungen?
Nein, jedenfalls nicht in Zusammenhang mit den aktuellen Ausschreitungen in Frankreich. Aber die Gefahr spontaner Zerstörungsaktionen bleibt natürlich, weil die Jugendlichen sich mithilfe der sozialen Medien sehr gut und rasch organisieren können. In Lausanne haben sie die Kanäle Tiktok und Snapchat verwendet. Ausschreitungen, wie wir sie am Samstag gesehen haben, hätte man sich nach den Freisprüchen gegen sechs Lausanner Stadtpolizisten nach dem Gerichtsprozess im Fall Mike Ben Peter vorstellen können. Da gab es ja tatsächlich eine Kundgebung. Aber da blieb alles friedlich.
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