#Swedengate geht viralLassen die Schweden ihre Nachbarskinder verhungern?
Eine harmlose Anekdote löst Social-Media-Stürme aus, eine ungläubige Welt debattiert, und die Schweden legen sich selbst auf die Couch.
Das waren keine guten Tage für Schweden. Vor einer Woche noch war das Land die Heimat von Schären im glitzernden Meer, von Weltklassepop und Ikea, unerreicht in Sachen Gleichheit, Feminismus und mit Kardamom veredelten Zimtschnecken. Nun, ein paar gewaltige Social-Media-Stürme und den Hashtag #Swedengate später sind die Schweden das Volk, das unschuldige Nachbarskinder dem Hunger aussetzt.
Ein Tweet vom Anfang dieser Woche fasst die Stimmung zusammen: «Mehr als 100 Jahre lang galt Schweden als so ein guter Ort zum Leben, und nun hat ein Screenshot sie ruiniert.»
Gemeint war der Screenshot aus einem Reddit-Forum, in dem ein Nutzer den Schwarm fragte, was denn das Merkwürdigste gewesen sei, das sie bei anderen Leuten zu Hause aufgrund deren Kultur erlebt hatten. Der Nutzer «Wowimatard» erzählte, wie er als Kind einst einen schwedischen Freund zu Hause besuchte. «Und während wir in seinem Zimmer spielten, rief seine Mutter, dass das Essen fertig sei. Und jetzt passt auf: Er sagte mir, ich solle in seinem Zimmer warten, solange sie assen. Das war verdammt wilder Scheiss.»
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Nachdem sich zum allgemeinen Entsetzen herausstellte, dass die Anekdote eine in Schweden zumindest früher verbreitete Praxis wiedergab, trendete der Screenshot unter #Swedengate schnell auf Twitter. Es entbrannte eine heftige Debatte über Gastfreundschaft und Essenskultur, die sich bald auflud mit einer gehörigen Portion Hysterie und sodann daran ging, die dunkelsten Geheimnisse Schwedens zu enthüllen.
Schnell zogen einige Twitterer eine direkte Linie vom vorenthaltenen Abendessen zu anderen Menschenrechtsverletzungen und entlarvten Schweden als eigentliche Heimstatt von Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus. «Endlich», las man auf dem Twitter-Konto @AfroPropaganda: «Die Gerechtigkeit holt Schweden ein.»
Bitterer Ernst in der Debatte
Als bald auch Teile der Weltmedien begannen, die Schweden auf die Couch zu legen, meldete sich in Stockholm die Behörde für Psychologische Verteidigung zu Wort, gegründet, um die Schweden vor Einflussoperationen fremder Mächte zu schützen. Im letzten Monat erst hatte eine russische Kampagne die Pippi-Langstrumpf-Schöpferin Astrid Lindgren als Nazi verleumdet. Das Amt habe sich nun #Swedengate angeschaut, meldete «Aftonbladet», aber nein, es handle sich diesmal wohl «nicht um einen gezielten Angriff auf Schweden».
Ein organisch gewachsener Shitstorm also, rund um nie gegessene Fleischbällchen. Erheiternd dabei der bittere Ernst, mit dem der Sache bis heute zu Leibe gerückt wird, bis hin zum australischen Anthropologen Timothy Heffernan, der im «Sydney Herald» ausführlich seine Recherchen zur nordeuropäischen Essenskultur ausbreitete, die in der Enthüllung gipfelten, dass er zumindest im mit Schweden weitläufig verwandten Island sehr wohl einmal zum Essen eingeladen worden sei.
Das Filmportal «We got this covered» befand, man sehe den Film «Midsommar» nun in ganz neuem Licht. «Midsommar» ist ein Horrorfilm von 2019, in dem eine Gemeinschaft blonder und blumengekränzter Schweden ihre Älteren genauso über die Klinge springen lässt wie ihre zum Fest geladenen Gäste. (Immerhin werden die Gäste im Film zuvor reichlich bewirtet.)
«Das war mir als Kind echt egal. Ich habe einfach weitergespielt, während die Gastgeber assen.»
Und weil Schweden Schweden ist, werden die kulturellen und sozialen Hintergründe von #Swedengate nun selbstverständlich nirgendwo mit derart erschöpfender Ernsthaftigkeit ausgeleuchtet wie in Schweden selbst, wo die leicht erschrockenen Debattanten fragen: Sind wir wirklich so? Für jeden Schweden, der sich nicht erinnern konnte, als Kind jemals vom Essen bei den Nachbarn ausgeladen worden zu sein, fanden sich zwei, die eben diese Praxis bestätigten.
In Radio- und Fernsehstudios wurden Historiker und Ethnologen aufgefahren. Man suchte die Wurzeln der Praxis in vergangenen Hungersnöten ebenso wie in den Bräuchen der alten Wikinger, die einem demnach mit einer Essenseinladung eine Schuld aufnötigten, die es dann wieder abzuzahlen galt.
Manche sahen im Abendessen ein privates Familienritual, andere suchten die Erklärung im Respekt vor den Nachbareltern, die gewiss schon ihr eigenes Essen vorbereitet hatten. Die Kochbuchautorin Lotta Lundgren lieferte einen anderen Grund: «Was wir jeden Tag zu Hause essen, empfinden wir als gut genug für uns, aber nicht als gut genug, um es anderen vorzusetzen.»
Ein salomonischer Vorschlag
Die erfrischendsten Beiträge kamen von Leuten, die sich über all die Aufregung wunderten. «Wo ist das Problem?», fragte die Schriftstellerin Linda Johansson im «Independent»: «Das war mir als Kind echt egal. Ich habe einfach weitergespielt, während die Gastgeber das Abendessen verzehrten.» Die Autorin Emma Bouwin beschrieb sich in «Dagens Nyheter» als extrem heikles Kind und erinnerte sich an «eine wundervolle Zeit»: «Gabbi ging aus dem Zimmer und ass. Ich spielte weiter», schilderte sie die Playdates bei ihrer besten Freundin. «Ich habe nie bei Gabbi zu Abend gegessen. Es war toll. Ich hätte es nicht anders gewollt.»
Einen salomonischen Vorschlag machte in derselben Zeitung der Autor Andreas Hörmark. Schon möglich, schrieb er, dass «wir Schweden ein wenig knausrig» seien. «Und vielleicht sozial etwas unbegabt.» Mittlerweile aber seien auch unter Kindern so viele Vegetarier, Gluten-Unverträgliche und Fischhasser, dass man sie gefahrlos zum Essen einladen könne: «Die sagen sowieso Nein. Die Familie steht als barmherzige Samariter da und bekommt trotzdem den Tisch für sich allein.»
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