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Österreich-Erklärer im Interview
«Kurz hat den Austro-Trumpismus eingeführt»

Neue Karriere als Unternehmer und Investor: Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz – hier bei einem Auftritt am Swiss Economic Forum 2022 in Interlaken.
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Herr Thurnher, vier Jahre nach dem Ibiza-Video-Eklat und vielen kleineren Skandalen in jüngerer Zeit ist die FPÖ die populärste Partei Österreichs – gemäss Umfragen mit einer Zustimmung von 30 Prozent vor der ÖVP mit 24 Prozent. Wie erklären Sie das Umfragehoch der FPÖ, dieser äusserst umstrittenen Partei?

Der Hauptgrund ist die Schwäche der anderen Parteien, insbesondere von ÖVP und SPÖ. Die FPÖ profitiert aber auch davon, dass sie von der ÖVP, die zurzeit mit den Grünen regiert, als mögliche kommende Koalitionspartnerin mit Ansehen ausgestattet wird, indem sie in mehreren Bundesländern ohne Not an Regierungen beteiligt worden ist. Ausserdem hat die Corona-Pandemie in Teilen der österreichischen Bevölkerung grosse Ressentiments hinterlassen, die die FPÖ für sich zu nutzen weiss.

Chef der FPÖ ist Herbert Kickl, der als rechter Scharfmacher gilt. Seine Rolle nach den Wahlen im nächsten Jahr hat er bereits formuliert: «Ich werde ein Kanzler aus dem Volk und für das Volk sein.» Ein möglicher Kanzler Kickl: Was löst das bei Ihnen aus? 

Ich glaube nicht, dass es Kickl gelingen wird, Kanzler zu werden. Na gut, Sebastian Kurz konnte ich mir auch lange nicht als Kanzler vorstellen, bis er dank seiner tatsächlichen und erschwindelten Popularität zum Kanzlerkandidaten der ÖVP aufgestiegen war. Stand heute würde die ÖVP einen Kanzler Kickl nicht akzeptieren. Es würde wohl eher Norbert Hofer infrage kommen. (Hofer war 2016 Kandidat für das Bundespräsidentenamt und 2019 Spitzenkandidat der FPÖ bei den Nationalratswahlen, Anm. d. Red.)

«Kurz ging es immer nur um Kurz. Er war ein Autokrat und Machtopportunist.»

Sie haben Sebastian Kurz erwähnt, mit dem Sie in Ihrem neuesten Buch «Anstandslos» abrechnen. Ein Kapitel heisst «Die beschissene Republik». Nennen Sie drei Gründe, die gegen Kurz sprechen.

Erstens, Kurz hat den Austro-Trumpismus eingeführt. Das unverschämte, rücksichtslose Lügenprinzip hat er in Österreich heimisch gemacht. Das begann mit der Fabrikation seiner Unwiderstehlichkeit mit gefälschten Umfragen und setzte sich fort bis zur frommen Lüge, er sei abgetreten, weil er sich seiner Familie widmen wolle. Kurz stellte die Erlangung und den Erhalt der Macht über die Geltung allgemeiner, demokratischer Regeln. Kurz ging es immer nur um Kurz. Er war ein Autokrat und Machtopportunist.

Zweitens?

Kurz hat demokratisch legitimierte, staatliche Strukturen beseitigt, indem er in den Ministerien ein Parallelsystem geschaffen hat. Dabei installierte er externe Geschäftsführer und Berater, die an seine Weisungen gebunden waren und die faktisch über den ordentlichen Beamten standen.

Und drittens?

Kurz hat als Politiker immer so getan, als vertrete er die Interessen der bürgerlichen Mittelschicht sowie der kleinen und mittleren Unternehmen, wofür auch das Programm der ÖVP steht. Doch kaum hatte Kurz die Politik verlassen müssen, begann er, sich als Unternehmer und Investor in der internationalen Hochfinanz zu betätigen. Und er stellte sich sofort in den Dienst des libertären IT-Unternehmers und Milliardärs Peter Thiel, der Donald Trump, aber auch der amerikanischen Alt-Right-Bewegung nahesteht.

Nach seinem tiefen Fall als Spitzenpolitiker will Kurz viel Geld in einer mächtigen Branche machen. Inwiefern soll das ein Problem sein?

Die Welt von Thiel und Trump widerspricht vielem, wofür sogar europäische Konservative wie auch die ÖVP stehen. Sie ist das Gegenteil einer liberalen Demokratie mit starken Institutionen und einer lebendigen Zivilgesellschaft. Wir sehen inzwischen, wo Kurz wirklich steht.

Ex-Kanzler Kurz und seine engsten Vertrauten stehen im Verdacht, mit Steuergeldern eine positive Medienberichterstattung und geschönte Umfragen für die ÖVP erkauft zu haben. Wo steht Österreich bei der Aufarbeitung dieser Korruptionsaffäre?

In der Politik und vor allem bei der beschuldigten ÖVP fehlt der Wille zu echter Aufklärung. Kürzlich hat die Staatsanwaltschaft im Kanzleramt Regierungskorrespondenz beschlagnahmt, weil sie wohl zu Recht befürchtet hatte, dass diese vernichtet wird. Unter Kanzler Kurz hatten sowohl das Kanzleramt als auch andere Ministerien Dokumente geschreddert oder nicht herausgerückt. Ein Untersuchungsausschuss des Parlaments hat sich ein Jahr lang mit dieser Korruptionsaffäre beschäftigt, er ist allerdings von der ÖVP systematisch behindert worden in seiner Arbeit. Man hofft wohl, dass möglichst bald Gras über die Sache wächst.

«Nach dem Kurz-Skandal hat es keinen Bruch mit dem System Kurz gegeben.»

Gibt es denn zu wenig Aufklärungsdruck seitens der Oppositionsparteien und der medialen Öffentlichkeit?

Auch in der öffentlichen Debatte wird dieser Skandal heruntergespielt, unter anderem, weil grosse Teile der Medien, insbesondere die dominierenden Boulevardmedien, ÖVP-freundlich sind. Zugleich zögern sie, mit Kurz zu brechen, nachdem dieser viele Jahre Publikums- und Geldbringer für die Boulevardmedien gewesen war. Kurz’ starkes Image wirkt nach. Kurz selber beteuert seine Unschuld. Um den Skandal wird eine Folklore der Korruption betrieben.

Wie äussert sich das?

Ein beliebtes Argument lautet, dass man Kurz und seine Getreuen nicht vorverurteilen dürfe und dass man den Ausgang der Straf- und Gerichtsverfahren abwarten müsse. Dieselben Kreise aus der ÖVP, die damit von den belastenden Fakten ablenken wollen, tun gleichzeitig alles, um die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zu behindern. Und sie sprechen von einer linken und damit nicht unabhängigen Justiz. Dabei ist ein Korruptionssumpf aufgedeckt worden. Die Chatnachrichten, die beim einstigen Kanzler-Vertrauten Thomas Schmid entdeckt wurden, belegen eindeutig, dass Kurz sein Image und seine Wahlsiege erschwindelt hatte.

Hat diese Korruptionsaffäre zumindest politische Reformen angestossen? 

Nein. Die Inseratekorruption hat nicht aufgehört. Die Boulevardmedien erhalten weiterhin hohe Summen von der öffentlichen Hand. Das spiegelt sich dann auch in der Berichterstattung über die Regierung. Es gibt zwar ein neues Mediengesetz, es geht aber die Missstände nicht an. Im Gegenteil: Die Regierung unterstützt mit Steuergeldern das Onlinemedium «Exxpress», das laufend russische Propaganda verbreitet. Der einstige Medienbeauftragte von Kurz ist heute Medienbeauftragter der ÖVP. Kurzum: In Österreichs Politik hat es nach dem Kurz-Skandal bestenfalls kosmetische Verbesserungen gegeben, aber keinen Bruch mit dem System Kurz.

«Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, müsste Kurz verurteilt werden.»

Liegt das auch daran, dass auch andere Parteien an der Macht nicht viel anders handeln?

Ja, es stecken alle drin. Was Kurz im Umgang mit den Medien gemacht hat, hatten schon die Sozialdemokraten ganz gut praktiziert, als sie noch den Kanzler stellten. Kurz hat das System zugespitzt und radikalisiert. Die Parteien sind mit diesem System nicht schlecht gefahren. Die öffentliche Debatte in Österreich hat ein gravierendes Problem: Es gibt keine relevanten, unabhängigen Qualitätsmedien. Die Regierung kontrolliert das öffentliche Fernsehen und Radio (ORF), sie finanziert über Inserate die Boulevardmedien und setzt zunehmend auch auf die sozialen Medien. 

Im Fall Kurz und Co. ermittelt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit. Erwarten Sie Verurteilungen?

Das Landgericht Wien hat letzten Monat Sophie Karmasin, eine frühere Familienministerin und Meinungsforscherin, in einer anderen Sache zu einer Haftstrafe von 15 Monaten bedingt verurteilt. Das Gericht attestierte der Kronzeugin Sabine Beinschab, ebenfalls Meinungsforscherin, hohe Glaubwürdigkeit. Diese Frau spielt auch eine zentrale Rolle bei den Verfahren um geschönte Studien im Sinne von Kurz. Das Urteil des Wiener Landgerichts könnte Hinweise liefern auf den Verlauf künftiger Prozesse.

Was heisst das für den Prozess gegen Kurz?

Wenn das Gericht den Belastungszeugen glaubt, müsste Kurz verurteilt werden. Unabhängig davon darf nicht vergessen werden, dass es ein politisches Urteil gibt. Kurz musste zurücktreten. Und das ist gravierend genug.

Zwei, die sich politisch gut verstehen: FPÖ-Chef Herbert Kickl und Ungarns Premier Viktor Orban bei einem Treffen in Budapest im März 2023.

Wenn der Ex-Kanzler doch freigesprochen wird: Ist ein politisches Comeback denkbar?

In der ÖVP wird Kurz nicht mehr auftauchen, falls er wirklich wieder mit der Politik liebäugelt. Vielleicht wird ihm in ein paar Jahren irgendeine Rolle in der EU angeboten. Oder er wird in den nächsten Jahren so viel Geld verdienen, dass er kein Interesse mehr hat an politischen Ämtern.

Österreichs Politik liefert zuverlässig Skandale und Peinlichkeiten. Zuletzt machte sich die einst stolze SPÖ zum Gespött, als sie bei der Wahl ihres neuen Chefs einen falschen Sieger ausrief. War das mehr als nur eine Panne?

Das war ein blöder Fehler. Aber das zeigte auch, dass die SPÖ ausgehöhlt und schlecht geführt ist. Immerhin: Andreas Babler, der neue Chef, ist politisch wahrnehmbar, er kann reden, hat ein gewisses Charisma und kann mit schwierigen Situationen umgehen. Das zeigte er als langjähriger Bürgermeister von Traiskirchen, wo sich das grösste Flüchtlingslager Österreichs befindet. Da Babler eine andere Sprache als seine Vorgänger spricht, ist es ihm zuzutrauen, dass er Wähler für die SPÖ zurückholt, von der FPÖ, aber vor allem aus dem Lager der Nicht-Wähler. Babler will seine Partei zurück an die Macht bringen, eine Koalition mit der ÖVP aber nur bedingt eingehen. Ob dieses Vorhaben rechnerisch aufgeht, werden wir sehen. Zumindest ist es eine neuartige Ansage für Österreichs Politik.

«Die FPÖ würde am liebsten ein illiberales System wie in Ungarn schaffen.»

Österreich tut sich schwer, sich im Ukraine-Krieg auf die Seite Kiews zu stellen. Liegt das an der Neutralität oder doch eher an seiner Nähe zu Russland?

Die Abhängigkeit vom russischen Gas ist immer noch gegeben, sie liegt bei rund 70 Prozent. Es gibt starke wirtschaftliche Verflechtungen, die Raiffeisenbank zum Beispiel hat grosse Investments in Russland gemacht. Auch politische Verbindungen nach Russland wirken noch nach. Die ÖVP unterhielt gute Kontakte nach Russland, und die FPÖ hatte sogar einen Freundschaftsvertrag mit der Putin-Partei.

Und welche Rolle spielt die Neutralität?

Es gab schon Versuche, eine Debatte über die Neutralität anzustossen. Nicht zuletzt Bundeskanzler Karl Nehammer hat das aber sofort abgeklemmt. Es gibt die Vorstellung, dass die Neutralität für die Bevölkerung ein ewiger Wert ist. Und dass Politiker von den Wählern abgestraft werden, wenn sie die Neutralität infrage stellen. Dabei würde es schon Sinn machen, die Neutralität neu zu definieren, denn mit Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich die Welt dramatisch verändert.

Österreich wählt voraussichtlich im Herbst 2024 sein neues Parlament. Was würde mit Österreich geschehen, wenn FPÖ-Chef Kickl – wider Ihre Erwartungen – doch neuer Kanzler würde?

Die FPÖ würde am liebsten ein illiberales System wie in Ungarn schaffen. In ihrer Regierung, wohl mit der ÖVP als Koalitionspartnerin, gäbe es viel Dilettantismus und viele Skandale, weil die FPÖ über kein geeignetes Führungspersonal verfügt. In der FPÖ gibt es Irrationalismus, Sektierertum, Hysterie, Fremdenhass, Rechtsextremismus. Obwohl eine FPÖ-Regierung Schaden anrichten würde, bin ich nicht allzu pessimistisch für Österreich, weil seine Demokratie und Zivilgesellschaft stark und gefestigt sind.