Interview mit Konfliktforscherin«Künstliche Intelligenz hätte die Invasion vielleicht verhindert»
Valerie Sticher untersucht, wie künstliche Intelligenz Friedensverhandlungen erfolgreich gestalten kann. Auch in der Ukraine.
Frau Sticher, Sie forschen zu künstlicher Intelligenz (KI) und deren Auswirkungen auf Friedensverhandlungen. Warum ist das ein relevantes Thema?
Algorithmen spielen eine zunehmende Rolle in bewaffneten Konflikten. Die Forschung befasst sich allerdings beinahe ausschliesslich mit der Auswirkung der KI im militärischen Bereich, insbesondere dem Einsatz von tödlichen autonomen Waffen. Abgesehen davon ist es auch wichtig, zu verstehen, wie sich der Einsatz von KI auf andere Bereiche auswirken könnte, beispielsweise auf die Anreize und Möglichkeiten von Konfliktparteien, einen bewaffneten Konflikt durch ein Friedensabkommen beizulegen. Nur wenn wir dies verstehen, können wir gezielt Massnahmen ergreifen, um die friedliche Beilegung von Konflikten durch KI zu unterstützen.
Sie forschen speziell zur Ukraine. Was haben Sie dort bislang in Zusammenhang mit KI untersucht?
In der Ostukraine herrscht ja bereits seit 2014 ein bewaffneter Konflikt. Mir ihrer Mission zur Überwachung des Waffenstillstands in der Ukraine ist die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine Vorreiterin beim Einsatz von neuen Technologien. So nutzte die OSZE beispielsweise mit Kamera ausgestattete Drohnen und Satellitenbilder, um die Mitarbeitenden in ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen. Zusammen mit einem Kollegen der Universität Göteborg habe ich untersucht, wie sich der Einsatz dieser Technologien auf die Einhaltung der Waffenruhe auswirkt. Die Auswertung der gesammelten Daten von Hand ist allerdings sehr aufwendig, weshalb die Technologien nur selektiv zum Einsatz kommen. Ein nächster Schritt ist daher, zu untersuchen, was der Einsatz von KI hätte verändern können, da dies eine weitaus systematischere Sammlung und Analyse von Konfliktdaten ermöglicht hätte.
Wo hätte KI beim Verhindern der Invasion in die Ukraine hilfreich sein können, wo eher nicht?
Über die Entschlossenheit der russischen Führung und die Unterstützung von Putins innerem Kreis war wenig bekannt. Solche Informationen wären auch in Zukunft mit KI schwer zu erhalten. Wo KI allerdings hilfreich hätte sein können, ist bei der Informationsbeschaffung auf der russischen Seite. Bereits die ersten Tage der Invasion zeigten, dass sich Putin auf mehreren Ebenen stark verschätzt hat. Einerseits hat er den Widerstand und die Entschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung und Regierung stark unterschätzt. Andererseits hat er die Identifizierung der ukrainischen Bevölkerung mit der russischen Identität sowie den Rückhalt der russischen Bevölkerung für einen Krieg in der Ukraine überschätzt.
Und KI könnte hier wichtige Informationen liefern?
Genau. Daher fokussiere ich mich in meiner Forschung hauptsächlich auf Informationsprobleme. KI hilft in diesem Zusammenhang bei der Verarbeitung und Analyse von Daten aus einem Konfliktgebiet und von Aussagen auf sozialen Medien, etwa um die Stimmung in der Zivilbevölkerung besser zu verstehen. Wir können KI aber auch gezielt nutzen, um Abmachungen zwischen den Konfliktparteien zu überwachen. Bei einem Waffenstillstand kann das helfen, schneller auf systematische Verletzungen oder eine militärische Nutzung der Waffenruhe hinzuweisen und entsprechend zu reagieren.
Gibt es bereits konkrete KI-Instrumente?
Da steckt das meiste noch in der Entwicklung. Zum Beispiel habe ich ein Projekt mit Jan Wegner vom Ecovision Lab der Universität und der ETH Zürich, mit dem Center for Security Studies der ETH Zürich, mit Partnern vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und der UNO. Dieses Projekt hat zum Ziel, frei verfügbare Satellitenbilder und maschinelles Lernen zu kombinieren, um Konfliktgebiete regelmässig auf Konfliktereignisse zu screenen.
Was lässt sich mit KI erreichen, was der Mensch ohne KI nicht kann?
Mithilfe von KI können die Akteure – also die Konfliktparteien oder Dritte wie die OSZE und das Internationale Rote Kreuz – sehr viele Daten sehr schnell verarbeiten, viel schneller, als dies durch Menschen möglich wäre. Mit KI können auch grosse Gebiete regelmässig und systematisch auf spezifische Ereignisse oder Veränderungen untersucht werden. Das würde sonst viel zu viel Ressourcen benötigen und wäre in den meisten Situationen nicht praktikabel – insbesondere in Konflikten, die weniger Aufmerksamkeit erhalten als derzeit der Krieg in der Ukraine.
«KI könnte bei der Planung von humanitären Hilfslieferungen helfen.»
In der Ukraine wird während der Kriegshandlungen immer wieder verhandelt. Wie könnte KI hier eingesetzt werden?
Verhandlungen finden sehr oft ohne eine Waffenruhe oder mit nur temporären oder begrenzten Massnahmen zur Reduzierung der Kriegsgewalt statt. In solchen Situationen können Drittparteien KI nutzen, um eine bessere Übersicht über das Kriegsgeschehen zu erhalten, beispielsweise zur Planung von humanitären Hilfslieferungen. Gewisse Informationen können auch in solchen Situationen mit den Konfliktparteien geteilt oder sogar öffentlich zur Verfügung gestellt werden. Dies dürfen aber natürlich keine Informationen sein, die für militärische Zwecke genutzt werden können.
Welche typischen Hindernisse bei Friedensverhandlungen könnten mithilfe von KI überwunden werden?
Wenn es um strategische Entscheide geht, stellt zum Beispiel ein Mangel an Informationen über die militärischen Kapazitäten und die Entschlossenheit des Gegners ein wichtiges Hindernis dar. Solange Konfliktparteien glauben, militärisch mehr zu erreichen als durch politische Verhandlungen, werden Friedensverhandlungen erfolglos bleiben. Oft unterschätzen sie dabei ihre Gegner oder die Kosten, die ein Krieg mit sich bringt. Dies kann zu kriegerischen Handlungen führen oder Verhandlungen über ein Kriegsende blockieren.
Es könnte aber auch umgekehrt sein: Eine KI entdeckt die Schwächen des Gegners, was einen Angriff wahrscheinlicher macht.
Absolut. Gerade im taktischen Bereich können Konfliktparteien durch KI gewonnene Informationen nutzen, um sich einen militärischen Vorteil zu erschaffen. Ich schaue mir vor allem die Auswirkungen auf strategische Entscheide an, aber dies ist ein sehr wichtiger Aspekt, dem insbesondere bei der Entwicklung von konkreten KI-Instrumenten Beachtung geschenkt werden muss.
KI braucht immer viele Daten, damit sie auf eine spezielle Situation trainiert werden kann. Wie funktioniert das hier?
Das hängt stark vom Einsatzgebiet ab. Beim Projekt mit dem Ecovision Lab benötigen wir Satellitenbilder, auf denen Konfliktereignisse wie beispielsweise von Bomben zerstörte Infrastruktur oder niedergebrannte Häuser annotiert sind. Es gibt derzeit noch keine grössere, öffentlich zugängliche Datenbank mit solchen Konfliktereignissen. Allerdings gibt es bestehende Datensätze, welche Veränderungen der Infrastruktur, beispielsweise nach einem Erdbeben, dokumentieren. Modelle können zuerst auf diesen Datensätzen trainiert werden, bevor sie anhand von kleineren, spezifischeren Daten dann für die eigentliche Aufgabe feineingestellt werden.
Bei welcher Art von Konflikt sehen Sie weniger Nutzen in einer KI?
Wenn die militärischen Verhältnisse klar sind, wie das in Afghanistan der Fall war. Die Taliban konnten dort relativ widerstandslos die Macht übernehmen. Hier hat sich die Offensive für die Taliban klar ausbezahlt. Bessere Informationen durch KI hätten kaum einen Unterschied machen können.
Ist KI generell schon einsatzbereit für Friedensverhandlungen?
Nein, KI-Anwendungen sind heute noch nicht genügend ausgereift. Aber in Zukunft ist es beispielsweise denkbar, dass Konfliktparteien ein besseres Bild der militärischen Kapazitäten sowie zu Fragen der Identität, der Werte oder Entschlossenheit durch eine systematische Auswertung von Konfliktdaten und Aussagen in den sozialen Medien gewinnen.
Was hätten Putin solche mit KI generierten Informationen genützt?
Das kann man nicht abschliessend beurteilen, aber vielleicht hätte er den Invasionsentscheid dann nicht getroffen.
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