Max Küng über einen kleinen, braunen Wurm«Augenloser Hitler» heisst der Käfer
Wer eine neu entdeckte Tierart erstmalig beschreibt, darf sie benennen. Ein Hitlerverehrer nutzte dieses Privileg auf eine sonderbare Art.
Wissenschaft schafft dann und wann nicht nur Wissen, sondern auch Verwirrung. Als ich von einem Entomologen las, dachte ich sofort: «Oh ja! Entenforscher wäre ich auch gerne!» Denn die Pracht der Gefieder dieser putzigen Wasservögel ist ganz und gar faszinierend. Doch die Entomologie ist nicht die Wissenschaft der Enten, wie man als Laie oder Laiin vielleicht meinen könnte, sondern befasst sich mit Insekten. Die Frage ist dann natürlich gleich: Wieso? Weshalb? Warum widmet jemand sein Leben kleinen und bei näherer Betrachtung schauerlichen Krabbelviechern, mit denen Menschen in der Regel via «Anti Brumm Forte», Ungezieferköderdose «Finito» oder Schuhsohle interagieren?
Ein grosser Hobby-Entomologe war Oskar Scheibel, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts sein Geld mit dem Handel von Motorkolben verdiente – doch seine Leidenschaft war die Erforschung von Käfern. Ein Privileg in Wissenschaftskreisen: Wer eine neu entdeckte Art erstmalig beschreibt, darf sie benennen. «Nomenklatur» nennt man dies, wobei der Name zweiteilig sein muss: vorne der Gattungsname, hinten ein Begriff nach freier Wahl, alles in Latein selbstverständlich und geregelt und registriert von der ICZN, der Internationalen Kommission für Zoologische Nomenklatur.
Auch Oskar Scheibel wurde dieses Privileg zuteil, nachdem er in Höhlen im heutigen Slowenien eine neue Art entdeckt hatte, einen fleischfressenden Raubkäfer von brauner Farbe, gerade einmal fünf Millimeter gross, blind. Ein Käfer, der in der feuchten Dunkelheit ausharrt, bis ein anderes Viech sich dorthin verirrt und ihm vor die Fühler krabbelt, welches dann gefressen wird. Ein bisschen so wie Gollum in «Herr der Ringe», einfach kleiner und ohne Ring und Stimme («my precious»).
Scheibel hatte als gebürtiger Österreicher – nebst Käfern und Motorkolben – eine weitere Leidenschaft, die damals weit verbreitet war: Adolf Hitler. Also nannte er den 1937 erstbeschriebenen Käfer nach seinem Idol. Wortwörtlich enden seine ansonst wissenschaftlich nüchternen Ausführungen so: «Dem Herrn Reichskanzler Adolf Hitler als Ausdruck meiner Verehrung zugeeignet.» Anophthalmus hitleri heisst seither das Tier, was so viel wie «augenloser Hitler» bedeutet.
Eine eigenartige Geste, wie mir scheint. Ich würde es verstehen, wenn Scheibel seinem verehrten Hitler eine Art gewidmet hätte, die einen Meter lang ist, schön, imposant und mindestens ein Auge hat. Oder Flügel. Vielleicht gar noch mit auch für den Menschen nutzbaren Spezialeffekten ausgestattet wie etwa die Spanische Fliege. Doch dieser kleine Käfer? Der hat nicht mal Tischmanieren. Er verdaut nämlich extraintestinal. Nach der Tötung erbricht er Verdauungssäfte über seine Beute, bis diese sich verflüssigt und eine ihm genehme Konsistenz annimmt. Dann schlabbert und schlürft er seine Beute wie einen Smoothie auf.
Der Käfer heisst noch immer Anophthalmus hitleri. Denn die Wissenschaft kann einen einmal registrierten Namen nicht mehr ändern, die ICZN befürchtet ein Namenschaos, würde man einmal damit beginnen. Die von Scheibel aufgespiessten und beschriebenen Originalkäfer sind nun in Basel zu Hause, als Teil der Sammlung des Industriellen Georg Frey, welche seit 1997 zum Schatz des Naturhistorischen Museums Basel gehört. Ausgestellt sind sie nicht. Es gibt oder gab im Tierreich wahrlich Interessanteres. Verglichen etwa mit einem Riesenhirschen oder einem Zwergelefanten, ist der Anophthalmus hitleri bloss ein kleiner, brauner Wurm.
Max Küng ist Reporter bei «Das Magazin».
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