Boris Johnsons neue Kraft für EuropaKühler als Frost
Der britische Premier versuchte zuletzt, den Tonfall mit der EU versöhnlicher zu gestalten. Doch er hat auch eine neue Aussenministerin ernannt. Und die gibt sich ein wenig anders.
Es jährt sich nun also die Umsetzung des Brexit tatsächlich zum ersten Mal, und wenn man wissen will, wie es um die Beziehung zwischen der EU und dem Ex-Mitglied Grossbritannien steht, landet man ziemlich schnell bei Liz Truss. Und einem alten Foto. Liz Truss war damals britische Umweltministerin, sie steht auf dem Foto an einem Wahlkampfstand der «Remain»-Kampagne und hält einen Zettel in die Kamera, auf dem erklärt wird, warum man gegen den Brexit stimmen sollte. Liz Truss lächelt auf dem Foto. Sie veröffentlichte es selbst auf Twitter und schrieb dazu den Hashtag «#strongerin», etwa: stärker drin. Das war im Juni 2016.
Fünfeinhalb Jahre sind eine lange Zeit in einem Politikerleben, Liz Truss ist inzwischen zur Aussenministerin aufgestiegen, sie ist Ministerin für Frauen und Gleichberechtigung, und vor Kurzem hat sie noch einen dritten Job bekommen. Sie ist die Nachfolgerin des zurückgetretenen Brexiteers Lord Frost als Chef-Unterhändlerin in der britischen «Task Force Europe». Und wer nun aufatmet, der kennt Liz Truss schlecht.
Die 46-Jährige gilt als äusserst ambitioniert, nicht wenige sehen in ihr die aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge von Boris Johnson als Premierminister, sollte einmal ein Nachfolger gebraucht werden. Sie hat längst verstanden, dass es für eine konservative Politikerin wenig einträglich ist, noch am Remain-Gedanken festzuhalten. Stattdessen spricht sie jetzt gerne über die vielen Chancen durch den Brexit. «Global Britain», unter diesem Schlagwort versucht Johnsons Regierung das Land als neuen Welt-Player zu positionieren, Liz Truss war schon als Beauftragte für Internationalen Handel so etwas wie das Global-Britain-Gesicht. Im September beförderte Johnson sie ins Aussenministerium, seitdem betont sie in Reden, Grossbritannien sei «das beste Land der Welt». Sie trägt ihr patriotisches Wir-sind-stolz-Mantra so selbstbewusst wie ihre knallroten oder leuchtend blauen Kostüme und Hosenanzüge.
Was all das nun für die Beziehung zwischen London und Brüssel bedeutet, das fragen sich nicht nur die Leute in London und Brüssel, sondern auch in Berlin, Rom und Paris. Und, nicht zuletzt, in Belfast, der Hauptstadt Nordirlands.
Unterstützt wird Liz Truss von Chris Heaton-Harris, der die neue Rolle als Brexit-Amtssekretär bekam. Wobei das Brexit-freundliche und Johnson-nahe Blatt Daily Telegraph kürzlich einen «Vertrauten» von Truss zitierte, sie werde das Nordirland-Protokoll und überhaupt den Brexit als «persönliche Top-Priorität» behandeln. Schliesslich versuche sie, «die Zukunft Grossbritanniens als Niedrigsteuerland und als Land des freien Handels zu schärfen». Und als Land, das «die Sozialdemokratie im europäischen Stil ablehnt». Ihre Ansichten seien denen von Lord Frost «sehr ähnlich». Die Neue ist genauso unbequem für die EU wie der Alte, diese Botschaft verbreitet Truss' Umfeld gerade überall.
Der Brexit war immer eines: ein innenpolitisches Instrument der Konservativen
Truss teilte nach ihrem ersten Gespräch mit Maroš Šefčovič, dem Vize-Präsidenten der EU-Kommission, mit, sie sei interessiert an einer «konstruktiven Partnerschaft mit der EU», gleichzeitig habe sich aber die Position des Vereinigten Königreichs in Bezug auf das Nordirland-Protokoll nicht verändert. Man wolle weiterhin einen freien Warenfluss zwischen Nordirland und Grossbritannien, und man wolle auch die Position des Europäischen Gerichtshofs als Schiedsgericht nicht anerkennen. Im neuen Jahr werde man die Gespräche wieder aufnehmen, aber «wir sind weiterhin bereit, notfalls Artikel 16 zu ziehen». Artikel 16 ist eine Notbremse, die im Nordirland-Protokoll eingebaut wurde, aber für Lord Frost war Artikel 16 immer auch wie eine Pistole in der Manteltasche, permanent auf die EU gerichtet. Es sieht so aus, als sei das für Truss nicht anders.
Im Vereinigten Königreich kamen Truss' erste Äusserungen nicht nur gut an. Die Opposition befürchtet, Truss nutze ihre neue Zusatzaufgabe eher zur Profilierung bei der Wählerschaft als zur Lösung des Streits um die Grenze zwischen Nordirland und Grossbritannien. Der Brexit war ja doch immer vor allem eines: ein innenpolitisches Instrument der Konservativen. Wobei inzwischen nicht mehr ganz klar ist, wie gross der innenpolitische Nutzen aussenpolitischer Härte gegenüber der EU noch ist.
Anand Menon, Professor für Europäische Politik am King's College in London und Direktor der Forschungs-Initiative «UK in a Changing Europe», verweist auf neuere Umfragen, in denen erstmals eine Mehrheit der Leave-Wähler die Leistung von Premierminister Boris Johnson als negativ bewertete. Vieles liege natürlich auch an Johnsons Umgang mit der Pandemie und anderen Themen, die seine Glaubwürdigkeit unterminieren, aber: «Wenn die Basis der Brexiteers nicht mehr stabil ist, dann ist es politisch vielleicht nicht mehr sinnvoll, so weiterzumachen», sagt Menon. «Das heisst: Es muss nicht zwingend gut sein für die Regierung, permanent Spannung mit der EU zu haben.» Gut möglich, dass die Brexit-Wähler von einst der nicht enden wollenden Brexit-Streiterei überdrüssig sind.
Ausserdem, sagt Menon, ändere sich gerade die politische Debatte, wegen der Pandemie: «Kompetenz ist jetzt ein Faktor.» Johnson aber ist ein Wahlkämpfer, der die Menschen mit einer eigenen Rhetorik aus Stammeln und Geistesblitzen mitreissen kann, Kompetenz auszustrahlen hingegen gehört nicht zu seinen Stärken. Wenn die Menschen mit Johnsons Umgang mit der Pandemie unzufrieden sind, «dann färbt das auch auf ihre Haltung zu seinem Umgang mit dem Brexit ab», sagt Menon.
In Nordirland führt Sinn Féin in den Umfragen
Johnson hatte zuletzt einen fast schon versöhnlichen Tonfall gegenüber der EU angeschlagen, womöglich, wie auch Menon sagt, «weil er innenpolitisch genug Baustellen hat». In einem Hintergrundbriefing kurz vor Weihnachten sagte ein Vertreter der Regierung gar, Downing Street sei bereit, Kompromisse einzugehen. Kurz danach trat Lord Frost zurück – weil er, wie er begründete, mit der Richtung der Regierung in der Pandemie nicht einverstanden sei; Frost gehört zu jenen Konservativen, die am liebsten überhaupt keine Massnahmen ergreifen würden. Es gibt aber auch Leute in und um Westminster herum, die es für möglich halten, dass Frost Johnsons neue, eher softe EU-Linie nicht mochte.
Und noch etwas spielt politisch eine wichtige Rolle für Johnson und Truss. Im Mai finden im Vereinigten Königreich Regionalwahlen statt, in Nordirland wird ein neues Parlament gewählt. In den letzten Umfragen lag Sinn Féin knapp vor der DUP, anders gesagt: Der einstige politische Flügel der IRA, der eine Wiedervereinigung Irlands anstrebt, liegt aktuell in der nordirischen Wählergunst höher als die Unionisten, die das Vereinigte Königreich erhalten wollen. Ein derartiges Wahlergebnis könnte die alte Gewalt wieder aufflammen lassen, weshalb sich Johnson und Truss die Frage stellen dürften, welches Verhalten in der Nordirland-Protokoll-Frage der DUP am meisten nützt. In einer Umfrage der Universität Liverpool im November unterstützten 42 Prozent der Nordiren die Vorschläge der EU zum Nordirland-Protokoll, nur 20 Prozent waren für eine Neu-Verhandlung. 62 Prozent beurteilten den Umgang der DUP mit dem Thema als «schlecht».
Ob Liz Truss die Richtige ist in dieser ganzen Gemengelage, weiss natürlich niemand. In Brüssel ist man zumindest bereit, der Neuen eine Chance zu geben: Truss' Berufung sei eine gute Nachricht, sagte der irische Aussenminister Simon Coveney. Die Website Politico zitierte einen EU-Diplomaten, es sei nicht auszuschliessen, dass sie «wie ein Frost 2.0» auftreten werde, aber man hoffe, sie könne «das Vertrauen in das Vereinigte Königreich wiederherstellen». In Nordirland ist der Optimismus etwas geringer. «Die Namen kommen und gehen», schrieb kürzlich der Belfast Telegraph, «aber die Probleme bleiben dieselben.»
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