Humanitäre Katastrophe in GazaUNO warnt: 577’000 Menschen droht der Hungertod
Hilfswerke und Menschenrechtsorganisationen werfen Israel vor, Hunger gezielt als Kriegswaffe einzusetzen. Gerade Kinder haben nicht genug zu essen.

Bilder aus Gaza zeigen in diesen Tagen Kinder. Kinder, die Schlange stehen. Sie halten leere Töpfe in den Händen, eines von ihnen ist offensichtlich erschöpft von der Warterei, es stützt seinen Kopf auf dem Jungen vor ihm ab. Die Vorräte werden nicht für jeden reichen. Nicht mal ansatzweise. Während Freiwillige in der südlichen Grenzstadt Rafah warme Bohnen verteilen, versuchen die Menschen, mit Plastikbechern oder Kaffeekannen eine Portion für ihre Familien aufzufangen.
Das UNO-Welternährungsprogramm WFP veröffentlichte neue Zahlen zu Gaza, die unserer Redaktion exklusiv vorliegen. Demnach leidet dort jeder vierte Haushalt in Gaza unter extremem Hunger, ein Viertel der Bewohner hat seine Nahrungsmittelvorräte aufgebraucht und ist vom Hungertod bedroht, das wären gemäss den WFP-Zahlen rund 577’000 Menschen.
«Das WFP warnt seit Monaten vor dieser kommenden Katastrophe», sagte WFP-Geschäftsführerin Cindy McCain. «Tragischerweise ist die Situation ohne den sicheren und dauernden Zugang, den wir gefordert haben, schlimmer als je zuvor, und niemand in Gaza ist vor dem Hungertod sicher.»
Unicef: 80 Prozent der Minderjährigen hungern
Martin Frick, Direktor des UNO-Welternährungsprogramms, sagte im Gespräch mit dieser Redaktion: «Mit dem Bericht bestätigen sich unsere schlimmsten Befürchtungen. Jetzt ist wissenschaftlich bestätigt, mit welcher Geschwindigkeit diese humanitäre Katastrophe eskaliert.» In Gaza seien mehr Menschen vom Hungertod bedroht als in allen anderen Ländern der Welt zusammen. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Sobald es hell wird, beginnt der Kampf ums tägliche Überleben».)
Den Norden des Gazastreifens oder entlegene Schutzzonen erreiche die Organisation schon gar nicht. «Nicht alle Menschen können fliehen, und die sind auf sich allein gestellt. Dass die Zivilbevölkerung oder Helfer zum Ziel werden, ist mit dem humanitären Völkerrecht nicht erreichbar, wir brauchen eine Waffenruhe und die sofortige Freilassung aller Geiseln», sagte Frick.
Alle internationalen Menschenrechtsorganisationen warnen in diesen Tagen, dass der Hunger in Gaza seine ersten Opfer fordern könnte. James Elder, Sprecher des UNO-Kinderhilfswerks Unicef, berichtet, dass 80 Prozent der Minderjährigen hungerten. Die Hilfsorganisation Save the Children schrieb vor wenigen Tagen: «Wenn die Bomben in Gaza keine Kinder töten, könnte es der Hunger. Fälle von Dehydrierung und Unterernährung nehmen rapide zu. Hunger darf niemals als Kriegswaffe eingesetzt werden.»
Schwere Vorwürfe von Human Rights Watch gegen Israel
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf der israelischen Regierung Anfang der Woche «das Aushungern der Zivilbevölkerung als Methode der Kriegsführung» vor und beruft sich unter anderem auf Aussagen von Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant, der nach dem Hamas-Massaker, bei dem 1200 Israelis ermordet wurden, ankündigte, es werde keinen Strom, keine Lebensmittel und keinen Treibstoff in Gaza geben.
Human Rights Watch beruft sich auf das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das auch besage, es müsse keine kriminelle Absicht, also Vorsatz, dahinterstecken, sondern der Tatbestand des Aushungerns der Zivilbevölkerung könne auch aus der Gesamtheit der Umstände der Militäraktion abgeleitet werden. Israel warf der Organisation daraufhin Antisemitismus vor.

Für die schlechte Versorgungslage in Gaza gebe es mehrere Gründe, allen voran der Krieg sowie der komplette Zusammenbruch der Versorgungsstruktur, sagte WFP-Direktor Frick. «Drei Viertel aller Geschäfte sind zu, die Menschen haben auf der Suche nach Lebensmitteln Angst, selbst getötet zu werden.»
Ausserdem kämen viele Lastwagen aufgrund kaputter Strassen und fehlenden Treibstoffs nicht in alle Gebiete. Nach UNO-Angaben wird es auch immer schwieriger angesichts der Vielzahl an hungernden Menschen, Hilfsgüter überhaupt bis in die Notunterkünfte zu transportieren.
«Die Menschen halten Hilfslieferungen an, nehmen die Lebensmittel und essen sie sofort», sagte Philippe Lazzarini, Chef des UNO-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Er habe mit eigenen Augen verzweifelte Menschen gesehen, die direkt auf der Strasse Tüten aufgerissen hätten, um das wenige Essen zu verschlingen, das sie ergattert hätten.
Auf die Frage eines Vaters mit fünf Kindern, wie seine Familie mit einer einzigen Dose Bohnen fünf Tage überleben könne, habe er keine Antwort geben können, sagte der Schweizer Lazzarini. Er habe immer mehr Menschen getroffen, die seit ein, zwei oder drei Tagen nichts mehr gegessen hätten. (Lesen Sie zum Thema auch unser Interview mit Philippe Lazzarini: «Eine so strenge Blockade ist nichts anderes als eine kollektive Bestrafung».)
Erster Hilfskonvoi des Welternährungsprogramms
Am Mittwoch konnte das Welternährungsprogramm erstmals seit Ausbruch des Krieges einen Hilfskonvoi mit 750 Tonnen Lebensmitteln aus Jordanien in den Gazastreifen bringen. Nach wachsendem internationalem Druck öffnete Israel vor wenigen Tagen den Grenzübergang Kerem Shalom im Süden des Landes für Hilfslieferungen. «Ein wichtiger Schritt, aus dem hoffentlich mehr wird als ein weiterer Tropfen auf den heissen Stein», sagte WFP-Direktor Frick.
Man versuche nun, die rund 1,4 Millionen Menschen in den 155 UNRWA-Einrichtungen zu versorgen. Das sind meist Schulen, die in überfüllte Notunterkünfte umgewandelt wurden. Vor allem Konserven werden geliefert, da die Mehrheit nicht mehr kochen kann, also: Dosenfisch, Proteinriegel, abgepacktes Wasser. Man habe auch Zehntausende Schwangere im Blick, die eigentlich Spezialnahrung erhalten müssten, um Mangelerscheinungen bei ihren ungeborenen Kindern zu vermeiden.
Es gebe mittlerweile Berichte von palästinensischen Bauern, die ihre Tiere schlachten müssten, um überhaupt etwas zu essen, erzählte Frick. Mittlerweile seien alle 23 Bäckereien geschlossen, mit denen das Welternährungsprogramm zusammengearbeitet hat. Man hoffe nun, mit Treibstoff- und Flaschengaslieferungen aus Jordanien einige wieder in Betrieb zu nehmen.
Ausserdem sei die Wasserversorgung ein riesiges Problem, es gebe kontaminierte Brunnen und stillgelegte Meerwasserentsalzungsanlagen. «Abgefülltes Wasser in Flaschen ist ein absoluter Luxus», sagt Frick. Die hygienischen Zustände seien unvorstellbar, und es drohten Seuchen.
1,9 Millionen Binnenflüchtlinge – viele im Nirgendwo
Die Not ist auch deshalb so gross, weil 85 Prozent der Bevölkerung ihren Wohnort verlassen mussten und innerhalb des Gazastreifens zum zweiten oder auch dritten Mal auf der Flucht sind. Laut UNWRA gibt es mittlerweile 1,9 Millionen Binnenflüchtlinge.
Hunderttausende von ihnen fliehen in eine der von der israelischen Armee ausgerufenen Schutzzonen mitten im Nirgendwo, etwa nach al-Mawasi, einem kleinen sandigen Küstenstreifen in der Nähe von Khan Younis, 14 Kilometer lang, einen Kilometer breit.
Hier harren die Menschen unter Plastikplanen aus, auch in Gaza ist mittlerweile der Winter eingetreten, es weht ein kalter Wind vom Meer. Oft regnet es, es gibt hier kein Wasser, keine Toiletten, geschweige denn Supermärkte oder Bäckereien, um sich etwas zu essen zu kaufen.
Stattdessen floriert der Schwarzmarkt. Viele Grundnahrungsmittel kosten 13- bis 14-mal mehr als vor dem Hamas-Angriff am 7. Oktober. Ibrahim Mahram sagt dem katarischen Fernsehsender al-Jazeera: «Wir fliehen vom Krieg der Kanonen in den Krieg der Hungersnot.» Denn in al-Mawasi gibt es zwar keine Häuser und damit potenzielle Trümmer, die auf einen herabstürzen könnten, aber dafür den Hunger, der sich immer schneller ausbreitet.
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