Ärztepräsidentin warnt vor Kostenbremse«Notwendige Behandlungen könnten nicht mehr bezahlt werden»
Die Präsidentin der Ärzteverbindung FMH warnt vor den Folgen der Kostenbremse-Initiative. Der Schweiz drohten die Rationierung medizinischer Leistungen und Wartezeiten für Patienten, warnt Yvonne Gilli.
Die steigenden Gesundheitskosten machen der Bevölkerung am meisten Sorgen. Was läuft falsch im Schweizer Gesundheitswesen?
Es sind die jüngsten Prämienerhöhungen, die der Bevölkerung in erster Linie Sorge bereiten. Wenn wir die letzten fünf Jahre betrachten, beträgt der Prämienaufschlag im Schnitt nur 2,6 Prozent. Dennoch müssen wir feststellen, dass der soziale Ausgleich über die Prämienverbilligung nicht in allen Kantonen gleichermassen funktioniert. Einzelne Kantone haben die Mittel für die Prämienverbilligung in den letzten Jahren gekürzt, weshalb manche Haushalte übermässig belastet sind. Bei der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes war vorgesehen, dass auch der Mittelstand entlastet wird.
Sind Sie demnach für die Prämieninitiative der SP?
Die Delegiertenversammlung der FMH hat Stimmfreigabe zur Prämien-Entlastungs-Initiative beschlossen. Im Fokus steht für uns aktuell die Kostenbremse-Initiative, weil sie die Gesundheitsversorgung massiv gefährdet.
Die Mitte-Initiative setzt bei den steigenden Kosten an, die den Prämienanstieg verursachen. Ist das nicht der bessere Weg, als die Prämienverbilligung auszubauen?
Die Prämienverbilligung muss verbessert werden, denn diese ist der notwendige Ausgleich zum System der Kopfprämien. Zudem sind die Prämien in den letzten Jahren stärker gestiegen als die Kosten. Das hat unter anderem damit zu tun, dass immer mehr Behandlungen ambulant durchgeführt werden können. Dazu gehören teilweise teure Krebsbehandlungen und viele Operationen. Ambulante Eingriffe werden zu hundert Prozent von der Krankenversicherung bezahlt. Bei stationären Behandlungen übernimmt hingegen der Wohnkanton 55 Prozent der Kosten. Dieser Fehlanreiz soll nun endlich behoben werden. Denn das Parlament hat beschlossen, dass ambulante und stationäre Behandlungen künftig nach dem gleichen Schlüssel finanziert werden.
Gemäss der Mitte-Initiative dürfen die Kosten nur so stark wie die Löhne steigen. Was ist daran falsch?
Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen würde an die Wirtschaftsentwicklung gekoppelt. Das sind zwei Werte, die sich oft gegenläufig verhalten. Bei schlechter Wirtschaftslage steigen die Gesundheitskosten, weil sich Wirtschaftskrisen negativ auf die Gesundheit auswirken. Damit sich die Wirtschaft von Krisen erholen kann, muss die Gesundheitsversorgung aufrechterhalten und nicht abgebaut werden. Am krassesten sahen wir das in der Pandemie, als die Wirtschaft vom Bund mit Milliarden gestützt werden musste. Hätten wir eine Koppelung von Wirtschaftsentwicklung und Gesundheitskosten gehabt, wäre das fatal gewesen. Dies in einer Zeit, in der Hunderte Patienten auf den Intensivstationen lagen, wo die Behandlung pro Tag mehrere Tausend Franken kostet.
«Ein Teil der Patienten wird länger warten müssen. Das wird die erste Konsequenz sein, auch für jene, die eine Behandlung brauchen. »
Die Initiative sagt zwar, um wie viel die Kosten noch steigen dürfen, aber nicht, dass dieses Ziel sofort erreicht sein muss.
Bei einem Ja würde die Kostenbremse am 1. Januar 2027 in Kraft gesetzt, das steht in den Übergangsbestimmungen. Weiter heisst es, dass Massnahmen ergriffen werden müssen, sobald der Kostenanstieg ein Fünftel höher ist als der Lohnanstieg. Wir haben berechnet, zu welchen Leistungseinschränkungen die Kostenbremse geführt hätte, wäre diese im Jahr 2000 eingeführt worden. Dann könnten heute 37 Prozent der medizinischen Leistungen nicht mehr durch die obligatorische Krankenversicherung bezahlt werden. Eine solche Kostenreduktion hätte eine Rationierung und Zweiklassenmedizin zur Folge. Die Kostenbremse wäre eine veritable Versorgungsbremse.
Sie glauben, dass die Kostenbremse bereits nach kurzer Zeit zu Einschnitten führt?
Wird die Kostenbremse-Initiative im Juni angenommen, werden die Krankenkassen den grundversicherten Patientinnen und Patienten bereits im Jahr 2027 nötige Leistungen nicht mehr bezahlen können. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass nach der im Initiativtext festgeschriebenen zweijährigen Übergangszeit die Zielvorgabe nicht eingehalten werden kann. Das Lohnwachstum wird in diesen zwei Jahren voraussichtlich 1 Prozent betragen. Das heisst, die Gesundheitskosten dürften gemäss Initiative von Juni 2024 bis Juni 2026 um jährlich maximal 1,2 Prozent steigen. Der Expertenbericht des Bundes aus dem Jahr 2017 geht von einem langfristigen durchschnittlichen Kostenwachstum von 2,7 Prozent aus.
Wie sähe denn die von Ihnen befürchtete Rationierung aus?
Nicht nur die FMH, sondern sämtliche medizinischen Leistungserbringer und sogar der Bundesrat warnen vor einer Rationierung. Die Politik wird nicht den Leistungskatalog zusammenstreichen, sondern die Kostengrenze festlegen. Ärztinnen und Ärzte werden dann entscheiden müssen, was sie mit dem vorhandenen Geld machen. Ein Teil der Patienten wird länger warten müssen. Das wird die erste Konsequenz sein, auch zwar auch für jene, die eine Behandlung brauchen. In allen Systemen der Welt, in denen die Kosten gedeckelt werden, ist das so. Privat Versicherte werden die Leistungen hingegen weiterhin bekommen. Es wird die Ungleichbehandlung verstärken. Dabei ist eine der Stärken des Schweizer Systems, dass alle Zugang zu notwendigen Behandlungen haben.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister sagt, das Gesundheitswesen sei ein Selbstbedienungsladen und niemand habe ein Interesse an Einsparungen, sondern an möglichst vielen medizinischen Leistungen. Hat er da nicht recht?
Da liegt Gerhard Pfister komplett falsch. Wir überwachen die Kostenentwicklung der ambulanten Medizin über alle Fachrichtungen. Die Kostensteigerung pro Patient ist minim, aber die Nachfrage steigt mit dem Bevölkerungswachstum. Wir haben unter anderem deshalb eine vermehrte Nachfrage nach Erstkonsultationen. In der Grundversorgung, also der Hausarztmedizin, sinken die Kosten pro Kopf sogar. Gerhard Pfisters Aussage hat also keine Faktenbasis, sondern ist reine Abstimmungspolemik.
Die Mitte ortet im Gesundheitswesen ein Sparpotenzial von 20 Prozent, mit Verweis auf eine Studie der ZHAW.
Diese Studie schätzt das Einsparpotenzial im ganzen System. Die 20 Prozent beziehen sich somit nicht nur auf unnötige Behandlungen, sondern auf alle Ineffizienzen. Dazu gehören beispielsweise Operationen, die im Spital erfolgen, obwohl sie ambulant durchgeführt werden könnten, Behandlungen in Notfallstationen anstelle einer Hausarztpraxis oder zu hohe Medikamentenpreise. Einbezogen sind auch alle administrativen Leistungen, über die sich die jungen Ärztinnen und Ärzte in den Spitälern sehr beklagen. Sie verbringen bis zu zwei Drittel ihrer Arbeitszeit mit Arbeiten, die nicht direkt den Patienten zugutekommen. Viele dieser Einsparmöglichkeiten können durch Gesundheitsfachpersonen nicht beeinflusst werden.
Wäre dann die Kostenbremse nicht ein Mittel, um diese unsinnigen Administrativarbeiten zu reduzieren?
Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachpersonen leiden unter dieser grossen Administrativlast. Sie werden durch Regularien und dysfunktionale IT-Systeme dazu gezwungen. Wir versuchen mit aller Kraft, hier Gegensteuer zu geben. Die Initiative würde uns gar nicht helfen. Allein die Festlegung und das Monitoring dieses Globalbudgets würden ein neues zusätzliches Administrativmonster schaffen. Das Einzige, was die Initiative erreicht, ist, dass für Patientinnen und Patienten notwendige medizinische Leistungen nicht mehr durch die obligatorische Krankenkasse finanziert werden.
Länder wie Dänemark haben die Gesundheitskosten aber besser im Griff als die Schweiz.
Die Kostenentwicklung in allen industrialisierten Ländern verläuft parallel zu jener der Schweiz. Die Qualität der medizinischen Versorgung ist in der Schweiz aber deutlich besser als in praktisch allen Ländern. Dort, wo man die Kosten gedeckelt hat wie etwa in Grossbritannien, ist das System am Rande des Kollapses. Und dies, obwohl Grossbritannien gemessen an der Wirtschaftsleistung höhere Gesundheitsausgaben pro Kopf hat als die Schweiz. Das Beispiel Grossbritanniens zeigt, dass die Wirtschaftsentwicklung eine falsche Steuerungsgrösse ist für das zulässige Wachstum der Gesundheitskosten. Und Dänemark hat grosse Wartezeiten, zum Beispiel für den Beginn wichtiger Krebsbehandlungen, was fatale Auswirkungen haben kann.
Wie kann man ohne staatliche Eingriffe die Kosten in den Griff bekommen?
Ein Gesundheitssystem ohne staatliche Regulierung kann niemand wollen. Negativbeispiel sind die USA, die ein viel teureres Gesundheitswesen haben als wir, und in dem der ärmere Teil der Bevölkerung eine schlechte Versorgung hat. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz eine sehr gute Gesundheitsversorgung, zu der alle Zugang haben. Wer in den Ferien im Ausland auf medizinische Versorgung angewiesen ist, stellt das fest. Alle wollen möglichst repatriiert werden, um in der Schweiz behandelt zu werden. Natürlich müssen wir das System optimieren, um die Kosten unter Kontrolle zu halten. Ein Mittel ist der neue ambulante Tarif, der den alten 20-jährigen Tarif ersetzt.
Welche Verantwortung tragen die Patienten an den hohen Gesundheitskosten?
Patientinnen und Patienten brauchen die nötige Information, dass sie bei der Behandlung mitentscheiden können. Sind sie gut informiert, wählen sie nicht einfach die teuerste Behandlung, sondern die für sie optimale. Das bedingt aber, dass ich als Ärztin genügend Zeit für meine Patienten habe.
Sie sehen bei den Patienten keine Konsumhaltung?
Es gibt ein verändertes Nachfrageverhalten, vor allem bei der jüngeren Bevölkerung. Hier stellen wir eine Verunsicherung gegenüber ihrem Gesundheitszustand fest. Es kommt beispielsweise zu mehr spezialärztlichen Kontrollen, wenn die Patientinnen oder Patienten einen Herzstolperer feststellen. Selbst wenn Hausärzte zu keinem alarmierenden Befund kommen, wollen die Betroffenen eine vertiefte Abklärung. Die Frage ist, warum jüngere Menschen verunsichert sind. Dahinter steht eine gesellschaftliche Entwicklung. Und je weniger Zeit für eine hausärztliche Untersuchung vorhanden ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Überweisung zu einem Spezialisten erfolgt.
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