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EU-Beitritt der Ukraine
Auf von der Leyens Lob folgt das schnelle Aber

Kann die Ukraine offizieller EU-Beitrittskandidat werden? Ursula von der Leyen spricht an einer Pressekonferenz mit Wolodimir Selenski. 
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Wolodimir Selenski verbirgt nicht, dass er sich über diesen Gast besonders freut. Schon zum zweiten Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist Ursula von der Leyen in die Ukraine gereist und wird mit Lob überhäuft. «Ich möchte Ihnen nicht nur für Ihren Besuch danken, sondern vor allem für die Hilfe, die Sie unserem Land geben», sagt der Präsident. Er wisse, dass von der Leyen sich «jeden Tag» darum kümmere, die Ukraine zu unterstützen.

Selenski ist sich natürlich bewusst, dass die Chefin der EU-Kommission eine zentrale Rolle dabei spielt, wie schnell die Ukraine an die Europäische Union heranrücken kann. Schliesslich ist es ihre Behörde, die den 27 Mitgliedstaaten eine Stellungnahme über den ukrainischen Antrag vorlegen und darin ein Urteil über die Beitrittstauglichkeit treffen muss.

Sein Volk habe «bereits einen riesigen Beitrag bei der Verteidigung der gemeinsamen Freiheit und der gemeinsamen Werte geleistet», sagt Selenski und erinnert an die Tausenden Soldaten, die im Krieg gegen Russland gestorben sind. Für ihn ist die Sache klar: «Eine positive Antwort der EU auf den ukrainischen Antrag zur EU-Mitgliedschaft kann eine positive Antwort auf die Frage sein, ob es überhaupt eine Zukunft des europäischen Projekts gibt.»

Auch von der Leyen, die unter grösstmöglicher Geheimhaltung per Nachtzug nach Kiew gekommen ist, weiss um die symbolische Bedeutung ihrer Reise und dass jeder ihrer Sätze nach Hinweisen auf die Empfehlung der Kommission abgeklopft wird. Sie bestätigt, dass «Tag und Nacht» an der Stellungnahme gearbeitet werde und diese Ende der kommenden Woche vorliegen wird – und damit eine knappe Woche vor dem nächsten EU-Gipfel.

Dort müssen sich die Staats- und Regierungschefs auf eine gemeinsame Haltung einigen – und längst nicht alle EU-Mitglieder sehen Kiew so positiv wie von der Leyen. Sie hatte etwa Anfang Juni erklärt, es sei «unsere moralische Pflicht», es der Ukraine zu ermöglichen, der EU beizutreten.

Solche Aussagen kritisieren EU-Diplomaten: Die Deutsche wecke damit Erwartungen, die nicht erfüllbar seien und vertrete Positionen, welche die nationalen Regierungen nicht teilen würden. In Kiew versichert von der Leyen Selenski etwas, das unstrittig ist: «Wir werden an eurer Seite sein.»

Von der Leyen fordert härteres Vorgehen

Dass nach den Statements keine Fragen möglich sind, verdeutlicht die angespannte Lage. Von der Leyen möchte bei diesem «Arbeitsbesuch» nichts verraten, sondern Mut machen. Sie zeigt sich tief beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit der Ukrainer, die ihre Heimat verteidigen.

Das Land sei eine «solide parlamentarische Präsidialdemokratie» mit robusten Institutionen, einem hohem Grad an Digitalisierung und Dezentralisierung, sagt von der Leyen. «Wir sehen jeden Tag, dass die Zusammenarbeit der Verwaltung mit Kommission auf allen Ebenen funktioniert, und das trotz des Krieges», lobt sie.

Es folgt das Aber. Trotz erheblicher Fortschritte bei der Stärkung der Rechtstaatlichkeit müsse die Ukraine Reformen umsetzen, etwa bei der Bekämpfung von Korruption, fordert sie. Die Nichtregierungsorganisation Transparency International führt die Ukraine aktuell auf Platz 122 von 180, worauf EU-Länder wie Dänemark, Finnland oder die Niederlande gerne verweisen.

Auch bei der Verwaltung seien noch Modernisierungsschritte nötig, um die Suche nach Investoren zu verbessern, mahnt die Kommissionspräsidentin. Ob diese Umschreibung ausreichen kann, die Ukraine uneingeschränkt als «Beitrittskandidat» zu empfehlen, darüber dürfte in Brüssel viel spekuliert werden.

Unstrittig ist, dass die Ukraine seit März akribisch und professionell in der EU für ihren Beitrittswunsch geworben hat. Minister, Abgeordnete und andere Spitzenpolitiker teilten sich die Mitgliedstaaten untereinander auf. Es besuchten also immer die gleichen Personen bestimmte EU-Hauptstädte, um Kontakte aufzubauen und Überzeugungsarbeit zu leisten – oft weniger hör- und sichtbar als die Auftritte von Selenski oder Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk.

Zuständig für europäische Integration und damit auch für die Beantwortung der Hunderte Seiten umfassenden Fragebögen ist Vizepremierministerin Olga Stefanischyna. Bevor sie am Samstagmorgen von der Leyen in Kiew begrüsst, führte sie noch am Donnerstag Gespräche in Brüssel und teilte danach mit einer Handvoll internationaler Medien ihre Einschätzung der Lage.

Als Bremser sieht die Ukraine auch Deutschland

Sie gehe davon aus, dass «70 bis 80 Prozent der Mitgliedstaaten» bereit seien, der Ukraine den Kandidaten-Status zu geben, darunter Italien und Österreich. Widerstand kommt aus anderen Ecken: «Portugal kam für uns sehr überraschend. Dort gibt es eine der grössten ukrainischen Diasporas. Wir verstehen das nicht.» Die Position der Deutschen kenne man nicht, weil niemand diese klar artikuliere, sagte Stefanischyna. Neben Deutschland, Frankreich und den Niederlanden seien noch «einige nordische Länder» zu überzeugen.

Diese seien skeptisch und vermieden klare Aussagen, solange die Stellungnahmen der Kommission noch nicht vorliegen. In einer ersten Beratung der EU-Botschafter warben am Mittwoch vor allem Polen, Irland, Litauen und Estland für Kiews Wunsch.

Stefanischyna betonte, dass ihr Land keine Vorbedingungen akzeptieren wolle: Die Ukraine brauche den Rechtsstatus des Beitrittskandidaten. Danach könne der weitere Weg, der viele Jahre dauern dürfte, festgelegt werden, ohne dass man Sonderregeln beanspruche. Dies beteuert auch Selenskij immer wieder.

In einer Videoansprache, die am Sonntagmorgen veröffentlicht wird, spricht er von einem «diplomatischen Marathon», der bald zu Ende geht. Erneut zeigt er sich überzeugt, dass mit der Entscheidung über einen Kandidatenstatus für die Ukraine auch die Europäische Union gestärkt werden könne.

Vizepremierministerin Stefanischyna sorgt sich unterdessen über die Tendenz vieler EU-Politiker, die Beitrittsambitionen im Paket mit jenen Moldaus und Georgiens zu behandeln. Beide hatten im März ebenfalls ihre Anträge eingereicht. «Das ist meine grösste Sorge, denn wenn wir in den denselben Korb gesteckt werden, vergrössert dies die Unklarheit und gibt den Skeptikern Auftrieb.» Die Vizepremierministerin argumentiert, dass beide Länder «politisch und institutionell weit hinter der Ukraine» zurückliegen würden.

In Brüssel ist von Vertretern der Mitgliedstaaten mitunter zu hören, die Ukraine sei «besessen» vom Status des Beitrittskandidaten. Allerdings gebe es für deren Eile mindestens drei gute Gründe, so berichtet ein hochrangiger EU-Beamter. Es sei «eine historische Chance» für die Ukraine, da die europäische Öffentlichkeit enorme Sympathie für das von Russland angegriffene Land habe und bisher keine andere Krise den Krieg als medial dominierendes Thema abgelöst habe.

Zweitens könnte eine klare, rechtlich fixierte EU-Perspektive Selenski helfen, bei künftigen Verhandlungen mit Präsident Wladimir Putin möglicherweise Zugeständnisse zu machen und die eigenen Bürger davon zu überzeugen – man könnte sich der Unterstützung der EU-Länder noch sicherer sein, argumentiert der Insider. Er nennt als dritten Punkt die enormen Kosten für den Wiederaufbau, der Schätzungen zufolge 500 Milliarden Euro kosten könnte.

Der Status des Beitrittskandidaten könnte Investoren überzeugen, dass das Land sich wirklich modernisieren wolle – und nicht den Zustand vom 23. Februar 2022 anstrebe, also direkt vor Kriegsbeginn. Und wenn man die Summen heranziehe, die Polen, Tschechien oder Ungarn in den letzten Jahrzehnten vor und nach deren EU-Mitgliedschaft erhalten hätten, erscheinen die Kosten für den Wiederaufbau nicht mehr ganz so unvorstellbar.

Und plötzlich will auch Scholz nach Kiew

In dieser Frage will sich auch die EU-Kommission besonders engagieren, indem sie über eine eigene Plattform für gute Absprachen und Koordiniation der vielen internationalen Akteure sorgen will, betont von der Leyen in ihrem Auftritt an der Seite Selenskijs.

Vor ihrer Abreise besucht sie noch ein Militärkrankenhaus, um mit verwundeten Soldaten zu sprechen. Zudem spaziert sie über den Maidan-Platz, wo 2014 wochenlang für eine demokratische Ukraine demonstriert wurde – und für eine EU-Perspektive. «Es bewegt mich, dass das Leben langsam in die Strassen von Kiew zurückkehrt», schreibt die Kommissionschefin auf Twitter.

Es sind auch diese Bilder, die von der Leyen in der Ukraine so populär machen, weil sie den Menschen Hoffnung geben. Womöglich hat dies nun auch Olaf Scholz erkannt. Laut «Bild am Sonntag» plant der Bundeskanzler, noch vor dem G7-Gipfel Ende des Monats nach Kiew zu reisen – und zwar mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Premier Mario Draghi.

Auf ihrer Rückreise im Nachtzug nach Polen sagt von der Leyen zu Journalisten, beim EU-Gipfel am 23. und 24. Juni müsse eine einheitliche Position gefunden, «die die Tragweite dieser historischen Entscheidungen widerspiegelt». Ihr nächster Satz dürfte den Ukrainern Mut machen: «Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren, wenn wir zurückblicken, sagen können, dass wir das Richtige getan haben.» 

«Das wäre sehr demoralisierend»

Möglich wäre, dass der EU-Gipfel Ende Juni der Ukraine einen Beitrittskandidatenstatus verleiht, diesen aber mit Bedingungen verknüpft. Er reche mit «verschlungenen Formulierungen und Versprechungen» bei dem Gipfel, sagt der Experte François Heisbourg. In Berlin und Paris, den politischen Schwergewichten in der EU, löse der ukrainische Beitrittsantrag «keine Begeisterung» aus, betont er.

Andere Wissenschaftler warnen vor den Folgen einer negativen Reaktion auf die ukrainischen Ambitionen. «Sollte der Rat der EU Ende Juni keine positive Entscheidung treffen, wäre dies sehr demoralisierend für die Ukraine und jene Mitgliedsländer, die den Beitritt der Ukraine zur EU als entscheidende geopolitische Notwendigkeit ansehen», schreibt etwa die estnische Politik-Expertin Krisi Raik auf Twitter.