Asyldebatte im Parlament «Denkt man wirklich so in der Schweiz?», fragt Afghanistans ehemalige Vizepräsidentin
Sima Samar wurde von den Taliban verfolgt. Nun ist sie bestürzt über den Ruf von SVP und FDP nach einer härteren Gangart bei der Aufnahme afghanischer Frauen und Mädchen.
«Jemand muss es ihnen erklären, sonst verstehen sie das nicht.» Das sagt die ehemalige Vizepräsidentin von Afghanistan, Sima Samar, an einem grauen Nachmittag in Zürich. Sie meint damit die Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich am Dienstag und Mittwoch dagegen aussprechen wollen, Frauen und Mädchen aus Afghanistan als Flüchtlinge anzuerkennen. Die Ärztin ist entsetzt, sagt aber auch: «Es ist schwer vorstellbar, was dort los ist.»
Sima Samar kennt sich aus. Sie war 2001 die erste Ministerin für Frauenangelegenheiten in der afghanischen Regierung und ist eine der bekanntesten Menschenrechtlerinnen des Landes. Sie baute Spitäler für Frauen auf und organisierte heimlich Schulunterricht für Mädchen. 17 Jahre lang war sie Vorsitzende der afghanischen Menschenrechtskommission und erhielt den alternativen Nobelpreis im Jahr 2012. Das Magazin «Forbes» zählte sie zu den einflussreichsten Frauen der Welt. Ein Taliban habe sie im Fernsehen als «gefährlichste Frau des Landes» bezeichnet, schrieb die NZZ.
Hier fühlt sie sich sicher
Einen Mordkomplott in der Schweiz befürchtet sie aber nicht. «Dafür haben die Taliban zu wenig Geld», sagt sie. Sima Samar kommt häufig in die Schweiz, weil sie hier Freunde und einen Verein namens Hearts 100 mitgegründet hat, der sich vorwiegend um die Bildung von Frauen und Mädchen sowie Erwerbsmöglichkeiten für Afghaninnen kümmert. Derzeit lebt sie in den USA, wo sie bis vor kurzem als Gastdozentin an der Harvard-Universität unterrichtete.
Sima Samar sitzt in der Wohnung einer ihrer Freundinnen im Zürcher Seefeld. Dann legt sie auf den Tisch, was in den Augen der Taliban gefährlich ist: Menstruationsbinden für Frauen aus Baumwolle. Waschbar und wieder verwertbar. «Diese Binden ermöglichten es den Mädchen, auch während der Menstruation in die Schule zu gehen», sagt die Frauenrechtlerin.
Doch seit der Machtübernahme der Taliban dürfen Mädchen nach der sechsten Klasse nicht mehr in die Schule. Auch Parks, Schwimmbäder oder Sportstudios sind für Frauen verboten. Sie dürfen nicht mehr arbeiten und wurden von ihren Jobs suspendiert, auch von Frauen geführte Firmen wurden geschlossen. Die Zahl der Kinderehen, die für Mädchen arrangiert werden, ist in die Höhe geschnellt.
Hinzu kommen Vollverschleierung, fast keine Bewegungsfreiheit und keinerlei politische Rechte für die Frauen. Samar spricht von «Gender-Apartheid» und sagt: «Seit die Taliban das Land übernommen haben, haben sie kein Programm für die Regierungsführung, ausser dass sie die Ämter unter sich aufteilen und die Freiheit der Frauen kontrollieren.»
Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem neuen Urteil die Not von Mädchen und Frauen in Afghanistan anerkannt und schreibt, dass ihnen ein selbstbestimmtes Leben unter dem aktuellen Regime nicht möglich sei. Dies, weil sich durch die diskriminierenden Regeln und Massnahmen und der Durchsetzung derselben durch die Taliban ein unerträglicher psychischer Druck ergeben könne, der es einer Frau oder einem Mädchen persönlich verunmögliche, in Afghanistan ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt damit einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM). Dieses hat im Juli seine Praxis geändert: Afghaninnen erhalten seither in der Regel Asyl statt einer vorläufigen Aufnahme.
Dieser Entscheid wird nun aufgrund von zwei SVP-Motionen im Parlament angefochten. Auch die FDP möchte die Praxisänderung rückgängig machen, obwohl ein solches Vorgehen rechtliche und institutionelle Fragen aufwirft. Denn das Parlament ist nicht zuständig für den Entscheid, wer Asyl erhält und wer nicht. Zuständig ist das SEM, und das Bundesverwaltungsgericht überprüft die Entscheide. Doch die FDP sagt, die grundsätzliche Anerkennung von Frauen aus Afghanistan fördere die irreguläre Sekundärmigration und schaffe beim Familiennachzug Probleme. So sieht es etwa auch Marcel Dobler, St. Galler FDP-Nationalrat: «Die Anpassung war nicht durchdacht und ein gutes Beispiel für einen Pull-Effekt.»
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) widerspricht und verweist darauf, dass die europäische Asylagentur bereits im Januar 2023 eine neue Leitlinie veröffentlicht hat. Zahlreiche EU-Länder passten daraufhin ihre Asylpraxis an – etwa Schweden, Dänemark, Finnland, Spanien, Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland, Belgien, Lettland, Malta und Portugal. Die Schweiz folgte verzögert im Juli 2023. «Mit der Einreihung der Schweiz in eine europaweite Praxisänderung ist daher kein Pull-Effekt zu erwarten», heisst es bei der SFH. Zudem zeige die aktuelle Asylstatistik, dass es weder eine signifikante Zunahme der Asylgesuche von neu eingereisten Afghaninnen noch eine Zunahme der Gesuche im Rahmen des Familiennachzugs gebe. «Die Befürchtung eines markanten Anstiegs der Gesuchszahlen von afghanischen Geflüchteten ist daher unbegründet.»
Haufenweise Fischöltabletten
Sima Samar verfolgt die Debatte in der Schweiz und zeigt sich überrascht. «Denkt man wirklich so in der Schweiz? Das Land ist doch bekannt für seine humanitäre Tradition.» Nachdenklich schaut sie aus dem Fenster. Sie wünschte sich, in ihrem Land gäbe es das Privileg, über politische Geschäfte zu streiten, um dann demokratische, faire Lösungen zu finden. Doch die Taliban haben alle Institutionen aufgelöst, sogar die altehrwürdige Menschenrechtskommission. Auch eine Verfassung gibt es nicht mehr.
In Afghanistan hatte Samar vier Bodyguards, bevor die Taliban an die Macht kamen. Das war am 15. August 2021. Einen Tag später überfielen sie das Haus der Frauenrechtlerin in der Hauptstadt Kabul. Doch Samar hatte Glück: Sie weilte gerade in den USA. Dass sie nicht mehr heimkehren würde, hätte sie nicht für möglich gehalten. Ein Bild, das ihr bis heute geblieben ist: mehrere Packungen Fischöltabletten in ihrem Koffer, die sie für ihre Verwandten zu Hause gekauft hatte. Manchmal brennen sich in schwierigen Situationen erstaunliche Details ins Gedächtnis.
Jetzt muss Samar aus dem Exil mit ansehen, wie die Taliban alle erkämpften Errungenschaften für Mädchen und Frauen in Afghanistan sukzessive rückgängig machen. Sie vermisst die Menschen in ihrem Land. Doch solange die Taliban an der Macht sind, kommt eine Rückkehr nicht infrage.
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