Plötzlich TransparenzKatholische Kirche überrascht mit Untersuchung zu sexuellem Missbrauch
Zwei Zürcher Historikerinnen haben den Auftrag, die Übergriffe der katholische Kirche aufzuarbeiten – ohne Einschränkungen. Trotzdem erwarten sie, «dass Akten verschwinden».
Es hat gedauert. Die katholische Kirche hat lange mit sich gerungen – und sich schliesslich für die Transparenz entschieden. Sie lässt das dunkle Kapitel der sexuellen Übergriffe durch Forscherinnen und Forscher der Universität Zürich aufarbeiten. In einem Pilotprojekt soll vorerst geklärt werden, wo es Akten gibt, welche Archive wie zugänglich sind. Und was die Opfer als Zeitzeugen berichten.
Wie es dazu kam
Es ist ein grosser Schritt für die katholische Kirche der Schweiz. Vor zwei Jahren wäre er noch undenkbar gewesen. Zu unterschiedlich waren unter den Kirchenleuten die Positionen. Die einen zeigten sich offen für eine unabhängige Aufklärung der Übergriffe, andere betrachteten die Sache eher als interne Angelegenheit.
Doch der gesellschaftliche Druck stieg – vonseiten der Opfer, aber auch der Medien, die über die wachsende Zahl der gemeldeten Vorfälle, jedoch auch über gravierende Einzelfälle berichteten.
Die Verhandlungen der Universität Zürich mit der Kirche dauerten eineinhalb Jahre. «Am Anfang waren auf Seite der Kirche nicht alle bereit für ein solches Projekt», sagt Monika Dommann. Sie leitet zusammen mit Marietta Meier die Untersuchung, beide sind Professorinnen am Historischen Seminar. Dommann erzählt, wie sich die Bischofskonferenz in diesem extrem heiklen Thema mit allen Ordensgemeinschaften sowie der Konferenz der Römisch-Katholischen Kantonalkirchen zusammenraufen musste. Es gab Verhandlungsunterbrüche, «Schweigepausen», wie Dommann das nennt.
Die Forscherinnen seien «frei» und «ohne jegliche Einschränkung» durch die Kirche.
Am Schluss haben alle den Vertrag mit der Universität Zürich unterschrieben. Darin wird unter anderem festgehalten: «Mit der Anerkennung des durch sexuelle Übergriffe im Kontext der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz zugefügten Leids ist für die Kirche die Pflicht verbunden, das Geschehene aufzuarbeiten.» Und weiter: Die Forscherinnen seien «frei» und «ohne jegliche Einschränkung» durch die Kirche.
Wer sind die beiden Professorinnen?
Dommann und Meier sind beide 55 Jahre alt und haben bereits Erfahrungen mit Studien zu Machtmissbrauch. So leitete Meier das Forschungsprojekt zu Medikamentenversuchen in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Dommann sass dafür im Expertengremium.
Als die Kirche auf die beiden Frauen zuging, waren sie im ersten Moment zurückhaltend. Es war ihnen klar, dass dies eine grosse Aufgabe werden wird. Doch sie sahen auch das Potenzial. Und sagten schlussendlich zu: «Wir sehen diese Arbeit als unsere gesellschaftliche Verantwortung», sagt Historikerin Marietta Meier. Die beiden Frauen werden ein Team von drei promovierten Historikerinnen und Historikern und zwei Assistentinnen und Assistenten leiten. In den nächsten Tagen werden dafür die Stellen in allen Landesteilen ausgeschrieben.
Wie viele Fälle gibt es?
Die Schweiz ist in der Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsgeschichte spät dran. Praktisch alle umliegenden Länder sowie Staaten in Übersee haben in den letzten Jahren Resultate zu unabhängigen Untersuchungen veröffentlicht. Zuletzt erschien vor zwei Monaten in Frankreich ein solcher Bericht. Er belegt Übergriffe auf über 200’000 Kinder. «Die katholische Kirche der Schweiz hat viel zu lange zugewartet», sagt Meier. «Doch jetzt sehen wir, dass sie gewillt ist, einen Schritt vorwärtszugehen.»
Bei der Schweizer Bischofskonferenz sind bis Ende letztes Jahr 380 Meldungen von Missbrauchsfällen eingegangen. Die Dunkelziffer ist schwer abschätzbar. Die Kirche hat zwar Meldestellen und Beratungsangebote für Opfer eingerichtet. Doch es gibt wohl auch Betroffene, die sich bewusst nicht bei der Kirche melden wollen, um beispielsweise von einem Übergriff eines Priesters zu berichten.
Viele Vorkommnisse liegen Jahrzehnte zurück, doch es gibt auch 40 gemeldete Übergriffe der letzten neun Jahre. Betroffen sind insgesamt 120 Kinder unter zwölf Jahren, aber auch Jugendliche und vereinzelt Erwachsene – Männer und Frauen. Die Täter sind laut der kirchlichen Statistik überwiegend Diözesanpriester. Aber auch 24 Ordensfrauen wurden gemeldet.
Untersuchung geht 70 Jahre zurück
Das Forscherteam wird Vorfälle seit den 1950er-Jahren bis heute untersuchen. Sie seien ganz besonders daran interessiert, Machtstrukturen zu verstehen, sagen die Professorinnen. Mit der katholischen Kirche bewegten sie sich in einem Umfeld mit besonderen Vorstellungen von Sexualität und Geschlecht. Und es gehe um eine sehr hierarchisch aufgebaute Organisation mit viel Macht. «Reden, verschweigen, vertuschen – das alles müssen wir erforschen. Und dann einordnen, welchen Zusammenhang die sehr spezifische Machtstruktur der katholischen Kirche mit den sexuellen Übergriffen hat», sagt Dommann.
Wird die Kirche tatsächlich die Archive öffnen?
Wichtig sei aber zuerst, wie sie an Akten gelangten. «Es ist uns schnell klar geworden, dass wir zuerst ein Pilotprojekt von einem Jahr machen wollen. Unter anderem, um zu sehen, wie die Kirche mit der Frage des Aktenzugangs umgeht», erklärt Marietta Meier.
Denn es stelle sich die grosse Frage, wie sehr die Kirche die Forschung auch wirklich unterstütze und Zugang zu Archiven und Quellen gewähre. Im Vertrag sichert die Kirche zwar zu, dass sie ihre Gemeinden und Institutionen auffordern wird, die Archive zu öffnen. Doch eine Weisungsbefugnis hat sie nicht. Es werde sich zeigen, ob Personen, die spezifisches Wissen zu Akten hätten, auch wirklich kooperierten, sagt Meier.
«Wir sind nicht naiv. Wir rechnen schon fast damit, dass Akten verschwinden oder die Archive nicht überall geöffnet werden.»
Und Dommann fügt hinzu: «Wir sind nicht naiv. Wir haben als Historikerinnen sehr viel Erfahrung damit, dass bei heiklen Themen oftmals die Bereitschaft nicht gross ist, sich der Vergangenheit zu stellen. Wir rechnen schon fast damit, dass Akten verschwinden oder die Archive nicht überall geöffnet werden. Aber mit Lücken zu arbeiten und dies zu problematisieren, gehört zu unserem Alltag. Zudem ist auch eine mögliche Aktenvernichtung ein wichtiger Untersuchungsgegenstand», sagt sie.
Wer namentlich genannt wird – und wer nicht
Nach einem Jahr wollen die Forscherinnen und Forscher Bilanz ziehen. Mit einem Bericht in drei Landessprachen, damit in aller Öffentlichkeit diskutiert werden kann, wie es weitergeht. Im Vertrag mit der Kirche steht, dass Opfer in der Studie anonymisiert werden, die verantwortlichen Kirchenleute ab der Stufe Abt oder Bischof aber nicht.
«Wir gehen davon aus, dass es danach grössere Forschungsprojekte geben wird», sagt Dommann, «zum Beispiel auch zu Vorgängen, die sich im Ausland abgespielt haben. Etwa, weil Priester versetzt wurden, als sie in Verdacht gerieten.»
Transparenz und Unabhängigkeit sind den verantwortlichen Professorinnen wichtig. Auch die Kirche bekennt sich dazu. Es ist vertraglich vereinbart, dass die Kirche den Forschungsbericht vor der Publikation nicht redigieren kann. Der jetzt geschlossene Vertrag ist öffentlich einsehbar, auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG). Die Gesellschaft wählt in den nächsten Tagen auch den Beirat zum Projekt, in dem keine Kirchenleute sitzen werden, sondern Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Universitäten und Fachgebiete. Die Kosten für das Forscherteam von vorerst 370’000 Franken trägt die Kirche.
Und die Opfer?
Die Westschweizer Opferorganisation Sapec hat sich in ihrem letzten Newsletter beschwert, dass die Opfer von sexuellen Übergriffen in der Kirche bei der Ausarbeitung des Forschungsprojekts, von dem die Organisation gerüchteweise erfahren hatte, nicht einbezogen wurden.
Warum geschah das nicht? «Sie sind wichtige Zeitzeugen und Zeitzeuginnen», sagt Monika Dommann. «Es ist eine fragile, besonders traumatisierte Gruppe, der wir als Forscherinnen zuhören müssen. Aber wir müssen nicht nur unabhängig sein von der Kirche, sondern auch von den Opfern.» Auch die Kirche habe inhaltlich bei der Projektplanung nicht mitgeredet.
Das Forscherteam werde mit den Opferorganisationen Kontakt aufnehmen. «Sie könnten Missbrauchsopfer beispielsweise dazu aufrufen, auf allenfalls vorhandene Akten hinzuweisen und uns Dokumente und Fotos zur Verfügung zu stellen. Und die Betroffenen können uns helfen zu verstehen, welche Schwierigkeiten es gab, sexuellen Missbrauch zu thematisieren und aufzudecken», sagt Meier. Bei der Tabuisierung der sexuellen Ausbeutung sei nicht nur die Kirche wichtig, sondern auch das Umfeld der Missbrauchten, also etwa ein Heim oder die Familie. «Dort wird es in unserer Forschung darum gehen, Fragen zu stellen: Wer hat was gewusst? Wem wurde Glauben geschenkt? Und hat man etwas unternommen?», erklärt Dommann.
Kirche will Verbrechen aufdecken
Die katholische Kirche schreibt am Montag in einer Medienmitteilung, dass es die unabhängige Forschung brauche, «um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Deshalb soll die Pilotstudie auch aufzeigen, wie den Stimmen der Opfer in künftigen Studien Rechnung zu tragen ist.» Der Churer Bischof Joseph Bonnemain fügt in der Mitteilung hinzu: «Über Jahrzehnte wurden Vorfälle sexueller Gewalt durch kirchliches Personal vertuscht, die Opfer wurden ignoriert und die Taten blieben ungestraft. Es ist nur redlich, die Verbrechen der Vergangenheit aufzudecken.» Dies solle die Grundlage liefern, um Verantwortung noch entschlossener zu übernehmen und Strukturen so anzupassen, dass sie sexuelle Ausbeutung möglichst verhinderten, so Bonnemain.
Das Ausland macht es anders
Im Ausland ist man anders an die Sache herangegangen. In Deutschland hat eine Anwaltskanzlei die Untersuchung durchgeführt – und dann Teile des Berichts eingeschwärzt. Andere Länder untersuchten mit grossen Teams und Millionenbudgets die Missbrauchsgeschichten. Normalerweise wollten Institutionen nach einem Forschungsprojekt einen Schlussstrich ziehen, sagt Meier. Im Stil: Abschlussbericht, Entschuldigung, allenfalls Zahlung an die Opfer – und dann ist die Sache erledigt. «Aber wir haben Zweifel, dass dies der richtige Weg ist, und es widerspricht unserem Forschungsverständnis», sagt Dommann. «Der Prozess ist nach einer ersten Forschungsarbeit nicht vorüber. Dann fängt es erst richtig an.»
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