Energiewende und BevölkerungswachstumUmwelt- und Heimatschützer sehen ihre Anliegen bedroht
Was ist wichtiger, eine intakte Natur oder genügend erneuerbare Energie und günstiger Wohnraum? Dieses Dilemma stellt das Land vor eine Zerreissprobe.
Sein Ton ist irgendwo zwischen kämpferisch und empört. Hans Weiss (83), Doyen des Schweizer Landschaftsschutzes, hat sein Leben dem Erhalt von Naturgebieten gewidmet. In den letzten 60 Jahren retteten er und seine Mitstreiter ganze Täler und wertvolle Bioflächen vor den gefrässigen Baumaschinen.
Nun allerdings schlägt er Alarm. «So stark bedroht wie jetzt war die Landschaft noch nie», sagt er. Grund ist die Energiewende: Der Schweiz fehlt es an Strom. Neue Wind- und Solaranlagen brauchen Platz. Viel Platz. Selbst in den bisher streng geschützten Wäldern sollen riesige Windräder aufgestellt werden können, in den Alpen grossflächige Solarparks und neue Stauseen entstehen.
Die Politik lockert zurzeit im Eiltempo die Vorgaben, um Kraftwerke in unberührter Natur zu ermöglichen.
Das Land, wie wir es kennen, sei in höchster Gefahr
Ähnlich besorgt tönt es beim Schweizer Heimatschutz, also jener Organisation, die sich um den Erhalt historischer Bauten und Ortsbilder einsetzt. Auch in diesem Bereich sind politische Vorstösse hängig – eine Lockerung des Denkmalschutzes soll die Wohnungsknappheit lindern. «Was derzeit die Immobilienlobby assistiert von Immobilienspezialisten der Banken fordert, ist nichts anderes als die Liquidation von Ortsbild- und Denkmalschutz», warnt der Heimatschutz-Präsident und ehemalige Strafrechtsprofessor Martin Killias (SP) in der aktuellen Mitgliederzeitschrift.
Geht es nach dem Landschafts- und Heimatschutz, steht nichts weniger als die Schweiz auf dem Spiel, wie wir sie bisher kannten – mit ihren vielerorts immer noch intakten Landschaften und den gewachsenen Siedlungen.
Ist die Situation tatsächlich so schlimm? Steht das Land kurz vor der Zerstörung? Oder ist es – wie die Kritiker sagen – höchste Zeit, dass die oft als «Verhinderer» und «Bremser» gesehenen Natur- und Heimatschutzorganisationen endlich zurückgebunden werden?
Einst war der Landschaftsschutz ein bürgerliches Anliegen
Was unbestritten ist: Die Schweiz steckt in einem Dilemma. Einerseits braucht das Land genügend Energie und Wohnraum, andererseits möchten die meisten Schweizerinnen und Schweizer auch ihre einzigartige Natur erhalten. In Volksabstimmungen kommt immer wieder zum Ausdruck, wie vielen Menschen der Landschaftsschutz am Herzen liegt: 1987 wurde die Rothenthurm-Initiative zum Schutz der Moorgebiete mit 56 Prozent Ja-Anteil angenommen, 1994 die Alpeninitiative mit 52 Prozent, 2013 das Raumplanungsgesetz sogar mit 63 Prozent.
In der Politik sind Heimat- und Landschaftsschutz keine klassischen Links-rechts-Themen. Ursprünglich galt der Erhalt der historischen Ortsbilder und der Natur eher als konservative Anliegen – im Gegensatz zu den progressiven Kräften, die das Althergebrachte am liebsten niederreissen wollten, um Platz für Neues zu schaffen. In Zürich gab es in den 1930er-Jahren sogar Pläne, das ganze Niederdorf plattzumachen und durch moderne Häuser zu ersetzen.
Hans Weiss gehörte 1970 zu den Gründern der Stiftung Landschaftschutz. «In den Anfangszeiten haben sich viele Bürgerliche und Industrielle für unsere Anliegen eingesetzt, aus Liebe zur Heimat», sagt er. Vor allem die FDP-Bundesräte Rudolf Friedrich und Elisabeth Kopp seien wichtig gewesen. Erst in den 1990er-Jahren, mit dem Aufstieg der Grünen, wurde der Landschaftsschutz zunehmend als linkes Anliegen wahrgenommen. Auch die Bürgerlichen hatten ihren Anteil daran: Sie sahen sich vermehrt als Wirtschaftsvertreter und stellten sich im Zweifel auf die Seite der Bau- und Immobilienbranche.
SVP gibt sich zum Teil grüner als die Grünen
Heute verfliessen die Grenzen wieder: Die SP unterstützt tendenziell die erneuerbaren Kraftwerke, auch in Naturgebieten. Der Anstoss für den mittlerweile redimensionierten Solarpark in Grengiols VS stammt vom früheren SP-Präsidenten Peter Bodenmann. Im Gegenzug bekämpft die SVP vielerorts vehement die riesigen Windräder, die das Landschaftsbild schwer beeinträchtigen.
Entsprechend kommt es in der aktuellen Debatte immer wieder zu ungewohnten Allianzen. Im Nationalrat verhinderten SVP und Grüne gemeinsam mit der halben FDP-Fraktion, dass Solar- und Windenergieanlagen neu Vorrang vor anderen Interessen wie dem Naturschutz haben. Dies zum Ärger von SP-Fraktionschef Roger Nordmann, er sieht den Bau von Wind- und Solaranlagen deswegen um Jahre verzögert.
Vor allem für die Grünen ist die Situation verzwickt: Die Partei propagiert mit voller Kraft die Energiewende – geht es dann aber um konkrete Projekte, die die Natur beeinträchtigen, sieht es oft anders aus. Zudem stellt sie sich prinzipiell gegen den Bau von neuen Atomkraftwerken – im Gegensatz zu anderen Grünen Parteien in Europa, etwa in Finnland, die diese Technologie mittlerweile als kleineres Übel sehen. Woher also soll der benötigte Strom kommen?
«Ein schlechter Witz»
Ständerätin Lisa Mazzone ist bei den Grünen Spezialistin für Energiepolitik. «Das Bundesamt für Energie hat gezeigt, dass wir in der Schweiz 30 Prozent der Energie dank Effizienz einsparen könnten», sagt sie. Allerdings: Durch die Elektrifizierung des Verkehrs, die Umstellung auf Wärmepumpen und das Bevölkerungswachstum wird der Strombedarf auch ansteigen. «Umso mehr muss man über Effizienz sprechen und eine echte Solaroffensive auf den Dächern und Infrastrukturen vorantreiben», sagt sie. Für den Winterstrom soll zudem die Windkraft einen Beitrag leisten.
Auf die Rolle der SVP angesprochen, die mittlerweile zum Teil sogar stärker für eine intakte Landschaft eintritt, reagiert Mazzone ungehalten: «Die Grünen haben sich immer für die Suche nach Kompromissen eingesetzt. Wenn sich die SVP nun als Naturschützerin aufspielt, ist das ein schlechter Witz!» Die Volkspartei wehre sich sonst immer gegen stärkere Umweltvorschriften. Überhaupt hält sie die Bürgerlichen in dieser Frage für unehrlich: «Sie instrumentalisieren die Strommangellage, um jene Abschwächungen beim Naturschutz zu erreichen, die sie schon früher immer anstrebten.»
Wie gespalten die Grünen allerdings selbst sind, zeigt die Debatte um die grossflächigen Solarparks in den Alpen. Mazzone stimmte im Ständerat dafür, im Nationalrat enthielt sich eine Mehrheit der Fraktion der Stimme, im Wallis allerdings stemmt sich die Kantonalpartei mit allen Mitteln gegen die entsprechenden Projekte, kürzlich ergriff sie sogar das Referendum gegen beschleunigte Bewilligungsverfahren für Solaranlagen.
Die Tonalität wird zunehmend schrill
Der Kampf um Lebensraum, Natur und Energie dürfte sich in den nächsten Jahren zuspitzen. Die Bevölkerung wächst nach wie vor rasant; zusätzlich kurbeln Single-Haushalte und Scheidungen die Nachfrage nach Wohnungen an. Die Infrastruktur, etwa beim Verkehr, stösst schon jetzt vielerorts an Grenzen.
Die Tonalität wird dadurch zunehmend schrill. Die NZZ titelte kürzlich «Die Klima-Kommunisten haben längst übernommen» und sprach von «Strommangellage-Leugnern». Die Grünen wiederum kamen mit der Forderung, man solle die Wohnfläche pro Person nötigenfalls gesetzlich begrenzen. Als das Onlineportal «Watson» daraufhin von Grünen-Politikern wissen wollte, wie viele Quadratmeter sie selber beanspruchen, verweigerten fast alle die Auskunft.
Heimatschutz-Präsident Martin Killias beklagt, dass das eigentliche Problem weitgehend ignoriert werde. Neben dem steigenden Raumbedarf pro Person sei dies das Bevölkerungswachstum. «Als ich in die Primarschule ging, hatte die Schweiz 4,5 Millionen Einwohner, nun sind es doppelt so viele», sagt er. «Wenn es so weitergeht, werden die heutigen Primarschüler eine 18-Millionen-Schweiz erleben.» Und er fügt spöttisch an, man könne ja sonst die Wälder abholzen, dadurch würde sich die Landesfläche auf einen Schlag um ein Viertel vermehren.
Verschandelung oder Fortschritt?
In einem viel beachteten Immobilienreport der Raiffeisen-Bank hiess es kürzlich: «Die Ziele des Denkmalschutzes stehen dem Ziel Verdichtung und Versorgung der Menschen mit günstigem Wohnraum praktisch immer diametral entgegen.» Und: «Eine Lockerung des Denkmalschutzes würde daher ohne Zweifel einige zusätzliche Bauprojekte ermöglichen oder zumindest vergünstigen.»
Für Killias ist es «eine dreiste Lüge», wenn man behaupte, durch die Lockerung des Denkmalschutzes könne die Wohnungsknappheit gelindert werden. «Qualitativ ist das vergleichbar mit der Wahllüge Trumps!», sagt er. Denn nur gerade 3,5 Prozent der Gebäude in der Schweiz stünden definitiv unter Schutz, dazu gehörten aber auch Kirchen, Brücken oder Schlösser.
Landschaftsschutz-Pionier Hans Weiss gibt sich zurückhaltend, wenn es um das Bevölkerungswachstum geht. Er gehört eher zur Fraktion, die für Wohlstandsverzicht plädiert – er nennt es lieber: «mehr Genügsamkeit» – und für ein stärkeres Zusammenrücken. «Wir sollten vor allem bestehende Bauten besser nutzen, statt auf der grünen Wiese zu bauen, da gibt es noch viel Potenzial.» Von welcher politischen Seite er Unterstützung erhält, ist ihm egal. «Hauptsache, wir können das Schlimmste abwenden», sagt er.
Der Einsatz lohne sich nach wie vor. Letztes Jahr gab das Bundesgericht Umweltschützern recht, die gegen die Nutzung zweier Bäche im Wallis für ein Kraftwerk prozessierten. «Man machte sich darüber lustig, dass wir für die bedrohte Steinfliege einen solchen Aufwand betrieben – aber das war wichtig», sagt Weiss. Auch den geplanten, 170 Meter hohen Trift-Staudamm im Berner Oberland gelte es zu bekämpfen. «Das Ökosystem, das durch den abschmelzenden Gletscher entsteht, ist einzigartig», schwärmt er und zeigt Bilder aus dieser wilden und verlassenen Gegend. Selbst die Grünen stemmen sich nicht mehr gegen das Projekt. «Das Schlimme ist: Mit einem solchen Projekt zerstören wir die Landschaft und lösen das Stromproblem trotzdem nicht», sagt Weiss.
Am Ende gehe es darum, die Verschandelung zu verhindern – heute mehr denn je. Sich zur Ruhe zu setzen, kommt für den 83-Jährigen nicht infrage: «Die Natur und die schönen Landschaften sind unersetzlich – und enorm wichtig für die Gesellschaft.»
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